JUMA 2/2005, Unter Segeln lernen
JUMA 2/2005 Seite 16-19

  Unter Segeln lernen

Sechseinhalb Monate lang segeln 29 Schüler mit ihren Lehrern und einer erfahrenen Stammbesatzung mit dem Segelschiff ”Thor Heyerdahl“ von Kiel über Teneriffa nach Martinique, Costa Rica, Kuba, Mexiko und zu den Bermudas. JUMA berichtet in zwei Teilen von dieser abenteuerlichen Reise.

Aufbruch in die Karibik: Die ”Thor Heyerdahl“ vor einer modernen Skandinavien-Fähre
Dieser Mittwoch ist ein kalter Oktobertag im Hafen von Kiel. Fröstelnd stehen ein paar Jugendliche in Arbeitskleidung an der Pier. Vor ihnen liegt die ”Thor Heyerdahl“ . Das Schiff, das in den nächsten Monaten ihre Schule, ihre Wohnung und ihr Freizeitraum ist. Einige Blicke sind skeptisch. ”Ist das zu schaffen?“ Noch vor zwei Tagen hat das Schiff in der Werft gelegen. Jetzt wartet viel Arbeit auf Schüler, Stammbesatzung und Lehrer. Sie müssen dafür sorgen, dass das Schiff in dieser Woche klar zum Auslaufen ist. Am Samstag beginnt die elfte Reise des ”High Seas High School“-Projektes. Die Organisatoren nennen es frei nach Erich Kästner auch ”das segelnde Klassenzimmer“.
Detlef Soitzek, Kapitän:

”Die Jugendlichen in diesem Alter sind aufnahmebereit und lernfähig. Sie sind bereit, sich auf das Schiff und die See einzulassen. Sie haben erstaunliche Kenntnisse und Fähigkeiten. Jeder ist gefordert, das ist kein Spiel. Das spüren die Jugendlichen genau.“
Zwei Mädchen säubern Plastikteile der Lüftung. Vorher haben sie die Kojen aus Holz abgeschliffen. ”Das macht viel Spaß, weil man das zu Hause nicht macht“, findet Marie Christine. Die 17-Jährige kommt aus einem Internat in der Nähe von Lüneburg: ”Ich war noch nie in Südamerika“, erzählt sie. Warum sie mitfährt? ”Ich möchte meine psychischen und physischen Grenzen kennen lernen. Bei mir steckt eine große Abenteuerlust dahinter.“ Früher hat sie schon einmal eine Klassenfahrt auf einem Segelschiff mitgemacht.

Svenja, 17 Jahre, kommt aus Kassel. Sie hat noch keine Erfahrungen mit Segelreisen. Bedenken mischen sich mit Vorfreude. ”Man verlässt das gewohnte Umfeld, seine Eltern, die Freunde. Kontakt nach Hause haben wir nur, wenn wir an Land sind. Angst habe ich vor Weihnachten. Weihnachten und Silvester sind wir auf See. Doch ich freue mich auf die Delfine, die das Schiff begleiten werden.“ Von ihrer Mutter hat Svenja zum Trost einen Adventskalender und Lebkuchen bekommen.

Philipp, 19 Jahre, ist mit Farbe und Pinsel an Deck beschäftigt. Er ist seit einem Jahr Internatsschüler an der Hermann-Lietz-Schule in Meckenheim und hat einen Segelschein. Philipp freut sich auf die Reise: ”Das ist ein einmaliges Erlebnis. Meine Eltern stehen total hinter mir. Sie finden super, dass ich das mache. Ich möchte die verschiedenen Kulturen kennen lernen. Ich habe einen Anfängerkurs Spanisch gemacht. Der Höhepunkt ist die Fahrt über den Atlantik. Angst habe ich nur, dass ein heftiger Sturm aufkommen könnte.“

Jule, 17 Jahre, steht in der Messe, schmiert Brötchen und kocht Tee für die anderen. Normalerweise geht sie auf ein staatliches Gymnasium in Kiel. Jule hat sich gleich nach dem Halbjahreszeugnis der Klasse 10 für die Fahrt beworben. Die ”Thor Heyerdahl“ ist ihr nicht unbekannt. ”Ich habe schon mal eine kürzere Fahrt mitgemacht“, erzählt sie. Ihre Wünsche: ”Ich hoffe, dass die Reise schön wird, dass ich viel erlebe und dass wir heil wieder zurückkommen.“ Doch ein bisschen unsicher ist Jule auch: ”Ich hoffe, dass es keinen Ärger mit den anderen gibt.“ Und: ”Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man wiederkommt.“

Elmar Meister, pädagogischer Leiter:

”Seemannschaft heißt: Eine Hand fürs Schiff und eine Hand für den Mann. Das bedeutet Fairness, Rücksichtnahme und Sorgfaltspflicht gegenüber sich selbst und seinem Nebenmann.“
Segeln und Lernen

Eine komfortable Vergnügungsreise ist die Fahrt auf der ”Thor Heyerdahl“ also nicht. Doch dafür bekommen die Jugendlichen etwas geboten, was in Deutschland einmalig ist. Detlev Soitzek, 54 Jahre, Kapitän und Eigner der ”Thor Heyerdahl“, sagt dazu: ”Die Jugendlichen bekommen eine umfassende seemännische und seglerische Ausbildung. Das Ziel ist es, dass sie das Schiff übernehmen und selbstständig zurücksegeln. Sie wählen ihren eigenen Kapitän und Wachführer. Da muss man navigieren können, Segel setzen und bergen, aber auch kochen und die Maschine bedienen. Sie sind persönlich gefordert und für alle da. Das weiß jeder, der schon mal einen Sturm draußen auf dem Meer erlebt hat. Das ist es auch, was mich motiviert, immer wieder diese Reise zu machen. Es ist für uns ein hohes Risiko und eine große Verantwortung. Doch solche hoch motivierten, leistungsfähigen Jugendlichen sollen die Möglichkeit bekommen, diese Leistungen zu bringen. In der Schule sind sie eher theoretisch gefordert und können diese Fähigkeiten nicht ausleben.“

Unterstützung bekommt er von der Stammbesatzung. Das sind bei der Abfahrt Schüler und Studenten mit Segelausbildung auf der ”Thor Heyerdahl“, ein Arzt und ein pensionierter Ingenieur. Die meisten fahren einzelne Etappen mit, einige aber auch die ganze Reise.

Tina Rüdel, Lehrerin:
”Ich bin es gewohnt, recht viel zu reisen. Die Wohnung kann man untervermieten,
die Freunde wiedersehen.“

Torsten Petersen,
Lehrer: ”Physikalisch-geografische Themen finde ich besonders interessant und spannend. Wenn wir über den mittelatlantischen Rücken fahren, haben wir die größten Gebirge der Welt direkt unter uns im Wasser.“
Um den Unterricht kümmern sich sechs Lehrerinnen und Lehrer. Geplant sind Unterrichtsstunden, die sich auf Reisestationen beziehen, Exkursionen und Experimente. Doch auch der ganz normale Unterricht läuft weiter. Schließlich geht die ”normale“ Schule ja in einem halben Jahr weiter. In Teneriffa geht es mit dem Unterricht los. Vorher müssen sich die Lehrer wie die Schüler an das Leben auf dem Schiff gewöhnen.

Für die Pädagogen ist diese Reise eine ebenso große Herausforderung wie für die Schüler. Torsten Petersen, 35 Jahre, kennt das Projekt schon länger. Er freut sich, dass es jetzt in seinen Zeitplan passt. Der Referendar unterrichtet Biologie und Erdkunde. Er sagt: ”Das Projekt bietet die einmalige Chance, auf bestimmte Themen ganz anders als sonst einzugehen. Es ist der Lebens- raum Meer da. Wir werden mit verschiedenen Meeresströmungen konfrontiert sein. An Land werden wir verschiedene Staaten und Kulturen kennen lernen.“ Tina Rüdel, 30 Jahre, ist Diplombiologin und während des Studiums schon viel unterwegs gewesen. Sie meint: ”Ich finde es extrem spannend, auf dem Meer oder im Regenwald Unterricht zu geben.“

Am Samstag, dem 24. Oktober, ist es endlich so weit. Unter vollen Segeln verlässt die ”Thor Heyerdahl“ den Hafen von Kiel. Nicht nur der Himmel weint an diesem Tag. Die Tränen in den Gesichtern einiger Eltern und Freunde an Land kann man wegen des Regens nicht so genau erkennen. Doch an Bord fallen sie auf. Schülerin Tini schreibt ins Schiffstagebuch: ”Mit Tränen in den Augen winkten wir noch ein letztes Mal und stellten fest, dass auch die sonst so harten Jungs mal weinen müssen!“

Eine Menge Fragen gehen allen durch den Kopf: ”Wie wird die Reise verlaufen? Welche Erlebnisse werden wir haben? Und vor allem: Werden alle gesund wiederkommen?“
Davon berichtet JUMA in der nächsten Ausgabe.

Worterklärungen

1  Pier - Anlegestelle für Schiffe
2 Thor Heyerdahl - norwegischer Wissenschaftler und Abenteurer (1914-2002)
3 High Seas High School - (engl.) Hochsee-Gymnasium
4 Messe - Speise- und Aufenthaltsraum auf Schiffen
5 Privatsphäre - ganz persönlicher Bereich
6 Probetörn - Probefahrt eines Schiffes

Probleme und Regeln

Gemeinsames Mittagessen im Heimathafen
Streit und Ärger können auf einer sechsmonatigen Schiffsreise zum Problem für alle werden - und in kritischen Situationen sogar Lebensgefahr bedeuten. Darum muss man sich beim Leben, Lernen und Arbeiten auf engstem Raum auf den anderen verlassen können. Doch das ist leichter gesagt als getan. Es gibt nur Sechser-, Vierer- und Dreier-Kabinen an Bord. Täglich begegnet man sich an Deck, in der Messe, der Küche oder den Waschräumen. Privatsphäre (5) ist so gut wie unmöglich.

Hier helfen nur eine gute Vorbereitung und feste Regeln. Alle Teilnehmer mussten sich vorher schriftlich bewerben. Kennen gelernt haben sie sich bei einem Probetörn (6). Dort haben Kapitän, pädagogischer Leiter und Lehrer die endgültigen Teilnehmer ausgesucht. Vor wenigen Tagen haben sich alle in der Kieler Jugendherberge wieder getroffen. In der Woche vor dem Auslaufen arbeiten die Schüler in zwei Gruppen: Eine bereitet das Schiff vor, die andere schreibt Referate für den Unterricht an Bord. Jule berichtet, wie es weitergeht: ”Zwei Tage vor dem Auslaufen gehen wir an Bord. Wir durften uns einen wünschen, mit dem wir zusammen wohnen. Vielleicht können wir das ja später noch unter uns regeln, falls es Probleme gibt.“

Für die Vermeidung solcher Probleme ist Elmar Meister, 36 Jahre und pädagogischer Leiter, zuständig. Er erklärt, worauf es ihm ankommt: ” Am Anfang muss ganz deutlich werden, dass ein Schiff ein ernst zu nehmendes Arbeitsgerät ist, kein Spielzeug. Alle Schüler sind in Wachmannschaften eingeteilt. Der Tagesablauf ist genau geregelt und es gibt festgeschriebene Bordregeln. Das ist Gesetz an Bord. An Land finden Jugendliche Gesetze manchmal ärgerlich, hier verstehen sie den Sinn.“

Daneben sagt er deutlich, was nicht erwünscht ist: ”Partnerschaften lehnen wir ab. Wenn zwei nur füreinander Augen haben, haben sie keine Augen mehr für das, was rechts und links passiert.“ Wichtig dagegen ist ihm der Respekt der Privatsphäre: ”Anklopfen, wenn man Kammern betritt, niemanden anfassen beim Wecken - diese Kleinigkeiten sind sehr wichtig, weil die Privatsphäre eingeschränkt ist. Wenn man sich ein Handtuch vor seine Koje hängt, ist das der einzige Privatraum, den man noch hat.“
 

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