JUMA 2/2005, Landeier in der Großstadt
JUMA 2/2005 Seite 20-21

Landeier in der Großstadt

Das Leben in einer großen Stadt kann ziemlich aufregend sein. Vor allem für junge Frauen aus einer ländlichen Umgebung - im Volksmund ”Landeier“ genannt.

”Ich wollte mein eigenes Leben haben“, sagt Lee Ann. Bei den Eltern eines Freundes fand sie eine Unterkunft.
Lee Ann, 20 Jahre, kam vor einem Jahr mit ein paar Koffern nach Berlin. ”Meine Eltern wohnen in einem kleinen Dorf bei Lübeck. Der letzte Bus fährt um halb sieben“, sagt Lee Ann. ”Dort war der Hund begraben!“ (1) Sie wollte unbedingt in die Großstadt, obwohl sie dort niemanden kannte. ”Außer ein paar Leuten, die ich durch das Internet kennen gelernt habe.“ So fand sie auch ihre erste Unterkunft. ”In der ersten Woche war es richtig schlimm“, erinnert sich Lee Ann, ”da wollte ich eigentlich gleich wieder weg, nur zurück.“ Sie fand die Atmosphäre in der Großstadt kalt. Einen Ausbildungsplatz fand sie erst nach langer Suche. Mittlerweile hat die junge Frau eine eigene Wohnung gefunden. Mit ihr wohnt nur ihre Katze. Ihr Bild von den Großstadtmenschen ist auch besser geworden. Die Berliner sind total freundlich, findet sie. Nur die Jungs, ”da habe ich eher schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt Lee Ann. ”Man lernt sich schnell kennen, aber wird genauso schnell wieder vergessen.“

”In der Großstadt ist jeden Tag was los“, meint Daniela. Sie genießt das Leben in Berlin.
Daniela, 20 Jahre, hat ihre Kindheit in einem Dorf mit 300 Einwohnern
in Sachsen-Anhalt verbracht. Dort machte sie eine Lehre zur Steuerfachangestellten. Doch nach und n
ach verließen die meisten ihrer Freunde das Dorf. Dann machte ihr Freund mit ihr Schluss. Da begann auch Daniela darüber nachzudenken, wegzugehen. ”Wenn ich es jetzt nicht mache, werde ich hier auf dem Dorf alt“, dachte sie. Ein Vetter wohnte in Berlin, und sie kannte die Stadt von Besuchen. Daniela überredete eine Freundin aus dem Dorf, mit nach Berlin zu kommen. Die beiden mieteten sich zusammen eine Wohnung. Daniela fand einen Job in einem Steuerbüro; ihre Freundin arbeitete als Krankenschwester in einer großen Klinik. ”Mandy war allerdings ziemlich frustriert in der ersten Zeit. Sie lernte überhaupt niemanden kennen.“ Daniela dagegen genoss das Leben in der Großstadt. ”Im Dorf ging man nur einmal pro Woche aus“, sagt Daniela, ”in der Stadt kann man fast jeden Tag irgendwo auf Parties oder in Bars gehen.“ Das Schönste an der Großstadt ist für Daniela ihr neuer Freund: Alexander, ein echter Berliner.
 
”Soll ich wirklich in der Großstadt bleiben?“,
fragt sich Vera. Sie vermisst ihre Freunde.
Für Vera, 18 Jahre, stand gleich nach der mittleren Reife fest: Auf dem Dorf hält mich nichts mehr! Die Klassenfahrt nach Berlin imponierte der Schülerin aus einem kleinen Dorf in Mittelhessen. ”Allein die Auswahl der Theater und Kinos in Berlin! Da weiß man vor lauter Angeboten gar nicht, wo man zuerst hingehen soll“, sagt Vera. Auch die verrückt gestylten (3) Menschen in der U-Bahn haben Eindruck auf sie gemacht. Veras erste Adresse in der Großstadt war die Wohnung ihres Großvaters. Der wohnt allein im Stadtzentrum. ”Sonst kannte ich ja niemanden. Ganz allein wollte ich nicht wohnen“, sagt Vera. Das Hochhaus mit den 12 Etagen kam Vera riesig vor. Dass die Nachbarn nicht mal grüßen, erstaunte sie.
Gleichaltrige kennen lernen war gar nicht so einfach. An der Berufsfachschule waren noch Ferien. Jeden Abend mit dem Opa vor dem Fernseher sitzen wollte Vera auch nicht. In den ersten Wochen fühlte Vera öfters ein Ziehen in der Magengegend. Die Menschenmassen in der U-Bahn und auf den Strassen kamen ihr abstoßend vor. Jeder hetzte scheinbar irgendwelchen dringenden Terminen hinterher. ”Echte Freunde findet man in der Stadt nicht“, steht für Vera fest. Sie spielt mit dem Gedanken, ”aufs Land“ zurück zu gehen. Dirk Engelhardt

”Landeier“ im Fernsehen: TV-Star Felicitas Woll spielt in der witzigen Vorabendserie ”Berlin, Berlin“ das Mädchen Lolle aus dem kleinen Dorf Malente. Nach dem Abitur fährt sie nach Berlin, um ihren Freund zu treffen. Doch der hat ein anderes Mädchen kennen gelernt. Lolle beschließt, trotzdem in der Großstadt zu bleiben. Sie zieht in eine Wohngemeinschaft und versucht ihr Glück als Comiczeichnerin. Deutscher Humor, der international ankommt: ”Berlin, Berlin“ ist mit dem internationalen Fernsehpreis ”Emmy“ ausgezeichnet worden.

Worterklärungen

1 Dort ist der Hund begraben - dort ist nichts los
2 glucken (ugs.) - herumsitzen
3 verrückt gestylt - hier: verrückt angezogen, geschminkt, frisiert

 

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