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JUMA 4/2004, Die andere Seite
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JUMA 4/2004 Seite 14-17
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Die andere Seite
Wie denken Eltern eigentlich über ihre Kinder? Und was empfindet in solchen Momenten die Tochter oder der Sohn?
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Anna bewundert an ihrer Mutter, dass diese gut Stress aushalten kann. Angelika findet, dass ihre Tochter ähnlich wie sie selbst ist. |
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Anna, 15
Meine Eltern haben eine ganz gute Einstellung zum Weggehen. Natürlich will ich auch mal länger weg als bis um Mitternacht. Manche von meinen Freundinnen dürfen länger, andere müssen schon eher heim. Sonst lassen mir meine Eltern viel Freiraum -- auch, weil sie selbst viel unterwegs sind. Sie können ja schlecht sagen: "Heute Nachmittag bleibst du daheim, wenn sie dann nicht da sind.
Ich kann immer Freunde mit heimbringen, das ist kein Thema. Meine Eltern sind nicht so empfindlich, was die Lautstärke angeht. Meine Mutter ist sehr streng erzogen worden. Ich bewundere an ihr, dass sie anders geworden ist. Sie versteht sich voll (1) gut mit meinen Freunden, das ist mir auch wichtig. Meine Mutter und ich erzählen uns ziemlich viel - von Papa oder ihren Kollegen oder von Problemen mit ihrem Chef. Meistens dann, wenn wir uns in der Küche was zum Abendessen machen. Wir bleiben dann in der Küche hocken (2) und quatschen; mein Vater und mein Bruder essen im Wohnzimmer und schauen fern.
Meine Mutter ist eine dominante Persönlichkeit. Manchmal ist sie auch zu sehr Grundschullehrerin. Manche Sachen erklärt sie zehnmal, obwohl jeder sie schon beim ersten Mal verstanden hat. Sie lacht viel und gern. Am meisten bewundere ich an ihr, dass sie den ganzen Stress aushält: mit ihrer Arbeit und mit meinem Bruder, der mehr Unterstützung braucht als ich. In vielen Dingen bin ich wie meine Mutter. Wir sind beide selbstbewusst und dominant und haben bei Männern und Klamotten den gleichen Geschmack.
Ich habe ein ziemlich gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Ich habe sie beide gern. Manchmal, wenn ich mies gelaunt bin, lasse ich sie das vielleicht nicht genug spüren. Ich weiß nicht warum.
Angelika, 40
Anna geht sehr gerne weg. Mein Motto ist: leben und leben lassen. Wenn ich an meine eigene Jugend denke, fällt es mir leichter, Anna Freiheiten zu geben. Außerdem habe ich mir sehr früh Gedanken über das Loslassen gemacht und beschlossen: Anna soll selbstständig werden. Sie ist eine Führungspersönlichkeit, hat viele Ideen und kann gut organisieren. Ich finde es toll, dass sie so reif ist. Ich kann Vertrauen zu ihr haben. Sicher, irgendeinen Bock baut (3) jeder mal. Aber ich versuche das positiv zu sehen und mische mich nicht zu sehr ein.
Mein Mann und ich haben immer gesagt, wir wollen Raum für unsere Kinder schaffen. Einen Platz, wo sie sich aufhalten können und sich nicht ausgestoßen fühlen. Einen Kellerraum hatten wir schon immer. Jetzt haben wir das Garagendach ausgebaut. Ich bin überzeugt, wenn alle Jugendliche einen solchen Platz hätten, gäbe es viel weniger Probleme mit Drogen und Kriminalität. Unsere Kinder durften schon immer jeden heimbringen, auch übernachten war kein Problem. Ich sage "Hallo und lasse sie dann allein. Das Gute ist, dass ich die meisten Freunde von Anna dadurch schon von Kindheit an kenne. Wenn ich nicht wüsste, mit wem sie sich trifft, wäre mir das nicht recht.
Anna ist ein ähnlicher Typ wie ich. Vielleicht haben wir deshalb so ein gutes Verhältnis. Ich weiß von ihr nicht alles, aber das akzeptiere ich auch. Natürlich will ich, dass sie rechtzeitig Bescheid sagt, wenn sie irgendwohin will oder ich sie fahren soll. Das findet sie dann spießig (4), aber ich muss ja auch planen. Manchmal ist Anna spießiger als ich - zum Beispiel, wenn Freunde was liegen lassen. Da kann sie sich tierisch aufregen. Ich sage dann nichts dazu, ich beobachte das nur.
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Elisabeth traut ihrem Sohn zu, dass dieser bald selbstständig wird. Markus genießt es, jetzt ohne seine Eltern zu leben. |
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Elisabeth, 54
Markus hat in Bayreuth seine Ausbildung zum Fachlehrer begonnen. Am letzten Abend daheim haben wir noch alle zusammen Abend gegessen. Um halb acht stand unser Nachbar vor der Tür, der Markus mit nach Bayreuth nehmen wollte. Als das Auto losfuhr - das war ein komisches Gefühl. Alle meine Ängste kamen hoch. Schafft Markus das? Kommt er mit dem Alleinsein klar? In welche Cliquen kommt er in der Stadt? In diesem Moment dachte ich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sich Markus für die Fachoberschule entschieden hätte. Dann hätte er noch zwei Jahre daheim wohnen können. Aber es war sein freier Entschluss. Andererseits ist es gut, dass er jetzt selbstständig wird. Markus kann es. Ich traue ihm zu, dass er diesen Schritt gut schafft.Wir hatten abgemacht, dass Markus Bescheid gibt, wenn er in Bayreuth ist. Als er sich um zehn noch nicht gemeldet hatte, habe ich ihn angerufen, weil ich unruhig war. Wie fühlt er sich? Wie wird er die erste Nacht verbringen?
Jetzt ist er allein.
Am Donnerstag hätte er schon heimkommen können, weil er am Freitag frei hatte. Mittwochabend haben wir ihn angerufen. Wir wollten ihm anbieten, dass wir ihn am Bahnhof abholen, wenn er nicht bis Freitag warten will. Ich habe mir natürlich Sorgen gemacht, dass er Heimweh hat. Aber es ist bei ihm alles so gut gelaufen, dass wir es ihm gar nicht mehr angeboten haben. Wenn er heimgewollt hätte, hätte er schon was gesagt.
Als Markus kam, hat er gleich beim Kochen geholfen; das war früher nicht so. Dann hat er von seinen Lehrern und Mitschülern erzählt. Ich denke, es ist für Markus schwieriger als für mich. Weggehen ist immer schwerer als in der gewohnten Umgebung zu bleiben. Ich glaube, das Alleinsein wird ihm wehtun. Für meinen Mann und mich ändert sich weniger. Wir haben uns noch was zu sagen. Es ist sehr schön, nur wir zwei, und auch wieder ganz neu. Unter der Woche können wir jetzt für uns alleine planen und unternehmen, was wir wollen.
Markus, 17
Am Abend standen meine Eltern und mein Bruder auf der Straße, als ich abgeholt wurde, und wollten die große Verabschiedung anfangen. Nur, weil ich jetzt unter der Woche in Bayreuth wohne! Da habe ich ihnen gesagt: "Hey, Leute, ich komme am Freitag wieder!
Als wir in Bayreuth angekommen sind, habe ich nur schnell meine Sachen in der Wohnung abgestellt und bin dann gleich mit Christian, meinem Nachbar, und seinem Freund in eine Kneipe. Das war ein guter Einstieg: nicht allein daheim zu hocken, sondern was zu unternehmen. Bis dahin war ich angespannt, dann ging es. Ich kam erst um eins nach Hause und bin sofort eingeschlafen. Die Nacht war unruhig: Nicht, weil ich aufgeregt gewesen bin, sondern wegen der neuen Matratze und dem neuen Umfeld.
Die erste Woche war relativ locker. Ich habe viel Fernsehen geschaut und bin durch die Stadt gelaufen. Da habe ich mir schon Gedanken gemacht, ob meine Entscheidung richtig war. Was wäre, wenn ich mich für die Fachoberschule entschieden hätte? Oder zum Bundesgrenzschutz gegangen wäre?
Am Freitag hatte ich frei. Ich hatte mich aber für Donnerstagabend mit meinem Nachbarn in einer Kneipe verabredet. Deswegen bin ich nicht heimgefahren. Ich hatte auch nicht so das Bedürfnis. Daheim nerven die Eltern und ich muss bei den Arbeiten mithelfen ... Da bin ich lieber in die Stadt bummeln gegangen und habe geschaut, welche Geschäfte es gibt. Ich habe es genossen, allein zu sein.
Freitag bin ich nach Hause gefahren. Meine Eltern haben sich gefreut, dass ich wieder da bin. Dabei war ich ja nicht lange weg. Vermutlich haben sie mich mehr vermisst als ich sie. Aber es war schön, wieder vertraute Menschen um sich zu haben. Das Essen daheim habe ich plötzlich ganz anders geschätzt! Ich habe dann mitgeholfen abzutrocknen, Rasen zu mähen, zu putzen. Das fand ich gar nicht schlecht, weil man da merkt, dass man zu Hause noch gebraucht wird.
Simone Hilgers-Bach
1 voll - (jugendsprachl.) sehr
2 hocken (ugs.) sitzen
3 einen Bock bauen - (ugs.) etwas falch machen
4 spießig - kleinbürgerlich
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