|
JUMA 2/04, Zauberzunge
|
|
|
|
JUMA 2/2004 Seite 40-41
|
|
|
Literatur
Zauberzunge
In dem Roman Tintenherz von Cornelia Funke erwachen Figuren aus einem Buch zum Leben. Der Bücher-Arzt Mo hat sie herausgelesen. Nun verlangt Capricorn, der Anführer von Basta, Flachnase, Cockerell und den anderen Buchfiguren, dass Mo ihm Gold aus dem Buch herausliest. Meggie, Mos Tochter, ahnt nichts von den Fähigkeiten ihres Vaters, den alle Figuren Zauberzunge nennen.
... Mo schlug das Buch auf seinem Schoß auf und begann mit gerunzelter Stirn darin zu blättern, als suche er zwischen den Seiten nach dem Gold, das er Capricorn herauslesen sollte. Cockerell, du schneidest jedem die Zunge heraus, der auch nur einen Laut von sich gibt, während Zauberzunge liest!, sagte Capricorn, und Cockerell zog ein Messer aus dem Gürtel und blickte an der Reihe der Männer entlang, als suchte er sich schon das erste Opfer aus. Totenstill wurde es in der rot getünchten Kirche, so still, dass Meggie glaubte, Basta hinter sich atmen zu hören. Aber vielleicht war das auch nur ihre Angst.
Capricorns Männer schienen sich, ihren Gesichtern nach zu urteilen, in ihrer Haut ebenfalls alles andere als wohl zu fühlen. Sie musterten Mo mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Furcht. Meggie konnte das nur zu gut verstehen. Vielleicht würde schon bald einer von ihnen in dem Buch verschwunden sein, in dem Mo so unschlüssig blätterte. Ob Capricorn ihnen erzählt hatte, dass so etwas passieren konnte? Ob er es überhaupt wusste? Was, wenn passierte, was Mo befürchtete: Dass sie selbst verschwand? Oder Elinor? Meggie!, raunte Mo ihr zu, als hätte er ihre Gedanken gehört. Halte dich an mir fest, irgendwie, ja?
Meggie nickte und klammerte sich mit einer Hand an einen Pullover. Als könnte das nützen! Ich glaube, ich habe die richtige Stelle gefunden, sagte Mo in die Stille hinein. Er warf Capricorn einen letzten Blick zu, sah noch einmal zu Elinor hinüber, räusperte sich - und begann.
Alles verschwand. Die roten Wände der Kirche, die Gesichter von Capricorns Männern und Capricorn selbst auf seinem Stuhl. Es gab nur noch Mos Stimme und die Bilder, die sich aus den Buchstaben formten wie ein Teppich auf dem Webstuhl. Hätte Meggie Capricorn noch mehr hassen können, dann hätte sie es jetzt getan. Schließlich war nur er schuld, dass Mo ihr all die Jahre nicht ein einziges Mal vorgelesen hatte. Was hätte er ihr alles ins Zimmer zaubern können mit seiner Stimme, die jedem Wort einen anderen Geschmack gab und jedem Satz eine Melodie! Selbst Cockerell hatte sein Messer vergessen und die Zungen, die er abschneiden sollte, und lauschte mit abwesendem Blick. Flachnase starrte so verzückt in die Luft, als kreuzte ein Piratenschiff mit geblähten Segeln geradewegs durch eins der Kirchenfenster. Alle schwiegen. Kein Laut war zu hören außer Mos Stimme, die Buchstaben und Wörter zum Leben erweckte.
Nur einer schien immun gegen den Zauber. Mit ausdruckslosem Gesicht, die blassen Augen auf Mo gerichtet, saß Capricorn da und wartete: auf das Klirren von Münzen in all dem Wohlklang der Worte, auf Kisten aus feuchtem Holz, schwer von Gold und Silber.
Mo ließ nicht lange warten. Während er las, was Jim Hawkins, der Junge, der kaum älter als Meggie war, als er seine schrecklichen Abenteuer erlebte, in einer dunklen Höhle sah, passierte es: Goldstücke, die die Köpfe von George oder einem der Louis trugen, Dublonen, doppelte Guineen, Moidore und Zechinen, die Köpfe sämtlicher Könige von Europa im Verlauf der letzten hundert Jahre, seltsame orientalische Goldstücke, deren Schrift wie ein Gewirr von Fäden oder wie ein Stück von einem Spinnennetz aussah, runde Stücke, viereckige Stücke, Stücke, die in der Mitte durchbohrt waren, als hätte man sie um den Hals getragen - so ziemlich jede Art von gemünztem Gold musste in dieser Sammlung ihren Platz gefunden haben; und an der Zahl waren sie wie Blätter im Herbst, so dass mein Rücken wehtat, so viel musste ich mich bücken, und meine Finger vom Aussondern schmerzten. Die Mägde waren noch dabei, die letzten Krümel von den Tischen zu wischen, als über das blanke Holz plötzlich Münzen rollten. Die Frauen stolperten zurück, ließen die Tücher fallen, pressten die Hände vor den Mund, während die Münzen ihnen zwischen die Füße sprangen, goldene, silberne, kupferfarbene Münzen, sie klimperten auf den Steinboden, häuften sich klirrend unter den Bänken, mehr und immer mehr. Einige rollten bis vor die Treppenstufen. Capricorns Männer fuhren hoch, bückten sich nach den glitzernden Dingern, die ihnen gegen die Stiefel sprangen - und zogen die Hände wieder zurück. Keiner von ihnen traute sich, das verhexte Geld anzufassen. Denn was sonst war es? Gold, gemacht aus Papier und Druckerschwärze - und dem Klang einer menschlichen Stimme.
Aus: Cornelia Funke, Tintenherz, Cecilie Dressler Verlag, Hamburg
|
|
|
Mach mit!
|
|
Aus diesem Schrank kann man Bücher mitnehmen und andere hineinstellen. |
|
Mach mit: Bücher für alle Je mehr Menschen ein gutes Buch lesen, desto besser. Darum sollten Bücher nicht in Regalen verstauben. Bibliotheken sind eine Möglichkeit, Literatur öffentlich zugänglich zu machen. Wer seine eigenen Bücher weitergeben will, kann andere Wege nutzen. Zum Beispiel in Bonn. Dort steht an der Poppelsdorfer Allee ein Schrank. Der Inhalt: Bücher, die Bonner Bürger hineingestellt haben. Jeder kann die Bücher einfach aus dem Schrank nehmen, lesen und dann zurückbringen - oder auch gegen andere Bücher eintauschen. Eine Bürgerstiftung fördert das Projekt. Ehrenamtliche Paten kümmern sich um Inhalt und Zustand des Schranks.
Das Projekt erinnert an eine Idee aus dem Internet: Book Crossing (Büchertausch). Bookcrosser lassen ihre Bücher an öffentlichen Plätzen frei. Wer Glück hat, stolpert im Zug, im Park oder in einer Kneipe über ein Buch. Der Finder kann anhand einer Nummer auf der Website www.bookcrossing.com nachschauen, wo das Buch schon überall war und den eigenen Fundort eintragen. Nach dem Lesen sollte er das Buch wieder in der Öffentlichkeit liegen lassen - für den nächsten Finder. Etwas ähnliches hat die JUMA-Redaktion mit 10 Tintenherz-Büchern von Cornelia Funke vor. Du kannst ein Buch gewinnen, wenn du uns schreibst. Anschließend verschenkst du das Buch, oder du legst es an einen Platz, wo es andere mitnehmen können, zum Beispiel in der Schule. Außerdem bitten wir jeden Leser, ein paar Fragen zu beantworten. Du findest sie auf einem Zettel im Buch. Wir sind gespannt, welche Reise unsere Bücher antreten!
Schreibe an:
Redaktion JUMA
Tintenherz
Frankfurter Str. 40
51065 Köln
Deutschland
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Bei mehreren Einsendungen entscheidet das Los.
|
|
|
|
|
|
|