Zwei Sprachen, zwei Chancen, JUMA 4/2003
JUMA 4/2003 Seite 20-23

  40 Jahre Elysée-Vertrag

Zwei Sprachen, zwei Chancen

Wie erleben Jugendliche von heute die deutsch-französische Nachbarschaft? Das wollten drei Tageszeitungen entlang der deutsch-französischen Grenze beim Wettbewerb ”Salut Nachbar! Hallo Voisin1!“ von ihren jungen Lesern wissen: die ”Badische Zeitung“ aus Freiburg, ”Die Rheinpfalz“ aus Ludwigshafen und ”Les Dernières Nouvelles d’Alsace“ aus Straßburg. Sie erscheinen in dem Grenzraum zwischen Elsass, Baden und der Pfalz2, der über Jahrhunderte unter Kriegen zwischen Deutschen und Franzosen gelitten hat.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Binationale Aktionen und Projekte des deutsch-französischen Jugendwerks: die Verkehrssicherheitsrallye Paris-Berlin
Ein Ergebnis des Wettbewerbs ist: Wenn man sich gut kennt, versteht man sich besser. Die Klasse 5e 1 des Collège de l’Assomption im französischen Colmar schrieb über deutsch-französische Brieffreundschaften. Dazu Simon: ”Mit einem Brieffreund kann man seine Fremdsprachen- kenntnisse verbessern, Jugendliche aus einem anderen Land kennen lernen und bei einem Besuch sehen, wie sie leben.“ Seine Klassenkameradin Julia lernte so das deutsche Schulsystem kennen, das ganz anders als das französische ist: ”Die Schüler haben mittags keine große Pause, aber schon früh am Nachmittag frei!“
Auch die Schüler des bilingualen Zweiges vom Collège ”Lazare de Schwendi“ im elsässischen Ingersheim stellten bei ihrem Besuch in einer Realschule in Baden-Württemberg fest, dass die Atmosphäre dort anders als in einer französischen Schule ist: ”Alles ist lockerer, die Schüler können viel mehr machen, sie gehen während der Stunde auf die Toilette und schreiben auf ihren Handys SMS“, berichtet Caroline - ”keine guten Bedingungen, um zu lernen“, wie ihre Klassenkameradin Coraline kritisiert. Andererseits sind die deutschen Schüler ihrer Meinung nach viel selbstständiger als ihre französischen Altergenossen.
Die kulturellen Unterschiede in beiden Ländern scheinen nicht mehr sehr groß zu sein, auch wenn nicht alles gleich ist. ”Zum Frühstück gab es in meiner deutschen Gastfamilie Käse und Wurst“, berichtet die französische Schülerin Elodie, ”daran konnte ich mich nicht gewöhnen.“


Gute Erfahrungen

Die Klasse 10 b des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Waldkirch berichtete über gute Erfahrungen mit ihrer französischen Sprachassistentin: ”Es war einmal eine 9. Klasse, die sich in Französisch langweilte. Zu viel Grammatik, schwieriger Wortschatz; die Texte waren zugegebenermaßen halbwegs interessant. Trotzdem: Die einen töteten die Zeit, indem sie etwas aßen, die anderen schrieben sich Briefchen.
Eines Tages änderte sich alles. Sie kam in unser Klassenzimmer, jung,
dynamisch und sehr französisch: Anne- Sophie Loiseau, eine französische Sprachassistentin aus der Auvergne3. Ein Jahr lang sollte sie an unserem Gymnasium in Waldkirch unterrichten - selbstverständlich in Französisch. Sie war wie ein bretonischer Fischer gekleidet und zeigte uns anschaulich, wie stark der Wind am Meer blasen kann und dass sich die Fischer in der Bretagne dagegen mit dieser Kleidung schützen. Wir müssen nun immer an diesen kleinen Matrosen aus der Bretagne denken, wenn wir uns an Anne-Sophie erinnern. Mit dieser Szene hat sie die Vorstellung der ersten Region Frankreichs begonnen.“


Vorurteile und Urteile

Die Klasse 6 d am Max-Planck-Gymnasium Lahr schrieb über Vorurteile gegenüber Franzosen. Dazu gehört das Aussehen: Baskenmütze, kariertes Hemd mit Fliege, Baguette unterm Arm, O-Beine und Miniröcke als Schuluniformen; eine Schülerin stellte sich französische Mädchen sommersprossig und mit Brille, die Jungen als Streber und mit polierten Schuhen vor. Der spätere persönliche Kontakt mit Franzosen zeigte dagegen: alles Unsinn - ”in Wirklichkeit unterscheiden sich Franzosen gar nicht so sehr von uns“!Jutta Schütz, Jörg-Manfred Unger

1 salut voisin (französisch) - hallo Nachbar
2 Elsass, Baden, Pfalz - Regionen an der deutsch-französischen Grenze
3 Auvergne - Gebiet in Zentralfrankreich


Der Elysée-Vertrag von 1963 und das deutsch-französische Jugendwerk

Schüler des Geschwister-Scholl-Gymnasiums zeichneten, wie ihre Sprachassistentin in ihrer ersten Unterrichtsstunde aussah
Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle unterzeichneten am 22. Januar 1963 den Elysée-Vertrag. Er sollte die jahrhundertelange Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich beenden und gilt als wichtiger Schritt beim Aufbau der Europäischen Union (EU). Wesentliche Bestandteile des Vertrages sind regelmäßige Konsultationen auf politischer Ebene - die auch zu zahlreichen Gemeinschaftsprojekten führten -, das Erlernen der jeweils anderen Sprache in den Schulen und der deutsch-französische Jugendaustausch. Er ist die Aufgabe des deutsch-französischen Jugendwerks (DFJW). Seit seiner Gründung am
5. Juli 1963 hat es mehr als 7 Millionen jungen Leuten aus Deutschland und Frankreich die Möglichkeit zu Begegnung und Austausch gegeben; seit 1990 auch mit Jugendlichen aus anderen Ländern. ”Ohne Jugend“, so die Gründerväter damals, ”gibt es keine gemeinsame Zukunft!“

Deutsch-französischer Schulaustausch

Vanessa (links) und ihr französischer Austauschschüler Antoine in Wuppertal; im Hintergrund: die Wuppertaler Schwebebahn
Das DFJW fördert jährlich 3 500 Schüleraustausch-Programme an allgemein-bildenden Schulen; über 140 000 Schüler nahmen 2002 daran teil. Bei dem meist 2-mal einwöchigen Austausch stehen neben Unterrichtsbesuchen gemeinsame Ausflüge und Unternehmungen auf dem Programm. In der Regel wohnen alle Schüler in der Familie ihres jeweiligen Austauschschülers, wo sie Einblicke in den Alltag des Gastlandes bekommen - so wie die deutsche Schülerin Vanessa und der französische Schüler Antoine, beide 14. Sie nahmen im 40. Jubiläumsjahr des Elysée-Vertrages an einem Schulaustausch des Gymnasiums Wuppertal-Vohwinkel mit dem Collège Bobée in Yvetot, Normandie, teil. Ihr gemeinsames Urteil über den Austausch ”einfach super!“.


 

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