Die Riesen aus dem Emsland
JUMA 3/2003 Seiten 26-29

Die Riesen aus dem Emsland

Rainer will technischer Zeichner werden. Seine Ausbildung hat gerade begonnen.
Das Emsland - unendliche Weiten. Grüne Wiesen, so weit das Auge reicht. Hier und da ein paar Kühe, dort eine Gruppe Windräder. Doch plötzlich - was ist das? Ein Schiff fährt durch die Wiesen. Kein kleiner Kahn, sondern ein richtiger Kreuzfahrer. Eine Fata Morgana? Keineswegs! Wir sind in der Nähe von Papenburg - der Heimat der Meyer Werft. Rund 30 Kilometer von der Nordsee entfernt bauen hier 2500 Menschen die "Riesen der Weltmeere“. Karsten und Rainer sind zwei von ihnen. Die beiden Brüder machen ihre Ausbildung bei Meyer. JUMA hat sie an ihrem Arbeitsplatz besucht.

Karsten lernt den Beruf des Industrie
mechanikers. Er wird seine Ausbildung in Kürze beenden.
Wer auf der Werft arbeitet, muss früh aufstehen. Bei Karsten, 19 Jahre alt, klingelt der Wecker morgens um 5 Uhr. Tee trinken, Zeitung lesen - so beginnt sein Tag. Anschließend geht`s mit dem Fahrrad drei Kilometer zur Werft - zu jeder Jahreszeit. Das bedeutet in den Wintermonaten oft Regen und stürmische Winde. Karsten stört das nicht: „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung!“ Den Spruch hört man öfter in dieser Gegend! Auch bei Meyer hat man sich dem Wetter angepasst: Weit sichtbar sind die zwei größten Hallen der Werft. Hier entstehen bis zu 300 Meter lange und 32 Meter breite Schiffe - völlig im Trockenen.
Um 6 Uhr 45 beginnt Karstens Schicht. Normalerweise verschwindet er gleich mit einem Gesellen (1) im Bauch des Schiffes. Dort werden Maschinen und Anlagen montiert und in Betrieb genommen. Doch heute holt der Azubi (2) den Blaumann (3) aus seinem Spind (4) und geht in die Lehrwerkstatt. Er will sich auf seine Abschlussprüfung vorbereiten. 3 1/2 Jahre Ausbildung sind fast vorbei. Als Industriemechaniker mit Schwerpunkt Maschinen- und Systemtechnik muss Karsten handwerkliche Fertigkeiten eben- so beherrschen wie die Theorie. Mit Prüfungsbögen aus den letzten Jahren und unter Zeitdruck testet er schon mal den Ernstfall. "Bestehen werde ich auf jeden Fall“, meint Karsten, „aber es soll ja auch ein bisschen schön aussehen auf dem Zeugnis!“

Man hat an alles gedacht

In der Halle 5 liegt gerade die "Serenade of the Seas“ im Baudock (5). Noch ein halbes Jahr - dann soll das Kreuzfahrtschiff über die Weltmeere fahren. Doch wer das Schiff jetzt sieht, glaubt das kaum. Knapp die Hälfte ist im Rohbau fertig. Neben dem Schiff entstehen die "Blöcke“. Das sind vorgefertigte Teile, die manchmal mehrere Stockwerke hoch sind. Etwa 70 Blöcke hat ein Schiff dieser Größe. Ein mächtiger Kran setzt sie zusammen. Gerüste, dicke Plastikschläuche, die Frischluft in den Schiffsbauch pumpen, dünne Schläuche für Schweißgeräte, Stromkabel - ein Wunder, dass hier jemand den Überblick behält! „Kein Problem“, versichert uns Karsten. Selbst kleine Toilettenhäuschen stehen bereit - man hat eben an alles gedacht. Sicherheit wird groß geschrieben. Überall hängen Feuerlöscher. Jeder trägt hier einen gelben Helm - mit wenigen Ausnahmen. Das sind die Männer mit den roten Helmen. "Die sind für die Kräne zuständig“, erklärt Karsten. "Der Kranführer kann sie direkt erkennen.“

Keine Zeit zum Ausruhen

Ab 10 Uhr 15 hat Karsten eine 3/4 Stunde Pause. Er hat Tee in der Thermosflasche dabei und einen Joghurt. Es gibt auch eine Kantine (6), aber das Geld spart er lieber. Essen bekommt er zu Hause direkt nach Feierabend (7). Viel Zeit zum Ausruhen hat Karsten nicht: "Wir haben eine kleine Landwirtschaft. Da muss ich helfen, und es gibt immer etwas zu reparieren.“ Seine Freunde müssen meistens bis 17 Uhr arbeiten. Darum trifft man sich abends zu Hause oder in einem Café.
Karstens Hobby ist sein Auto, ein alter Golf. "Tiefer, breiter, lauter“, so beschreibt er den Wagen. Wenn er die Lautsprecher aufdreht, wackeln die Türen. „Das muss sein“, meint Karsten. Egal, was aus den Boxen kommt: "Ich höre kreuz und quer - von Techno bis Heimatmelodie.“ Einmal selbst eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff machen? Das reizt Karsten nicht besonders. "Ich bleibe lieber zu Hause!“

Zeichenbrett und Computer

Rainer will technischer Zeichner werden. Seine Ausbildung hat gerade begonnen.
Rainer, 16 Jahre alt, hat gerade seinen Realschulabschluss gemacht. Seit Anfang August fährt auch er jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Meyer Werft. "Ich schlafe allerdings eine halbe Stunde länger als mein Bruder“, verrät er mit einem Grinsen, "das reicht dicke (8)!“ Bei einem Betriebspraktikum auf der Werft hatte er entdeckt, was ihn besonders interessiert: die Arbeit als technischer Zeichner. Rainer schrieb aber zur Sicherheit mehrere Bewerbungen. Immerhin wollten 60 junge Leute einen der acht Ausbildungsplätze bekommen. "Bei mir hat’s geklappt!“, freut er sich heute.
Seine Ausbildung begann mit einer Werksführung. "Wir sind über fünf
Kilometer durch alle Hallen und Werkstätten gelaufen“, erzählt Rainer. In den ersten Wochen folgte eine Grundausbildung in der Metalltechnik. Jetzt ist sein Arbeitsplatz am Zeichenbrett oder am Computer. Mit Bleistift, Lineal, Radiergummi und einem weißen Blatt Papier übte er zunächst das Handzeichnen. „Das waren einfache Aufgaben - ein Weihnachtsbaumständer zum Beispiel“, erklärt Rainer. Jetzt hat er am Computer einen Badeponton konstruiert. Noch kein Boot, aber immerhin: "Das Ding schwimmt!“

Schwierige Fahrt ins Meer

Schwimmen kann auch die "Norwegian Dawn“, die gerade das Trockendock verlassen hat. So ein Ereignis wird jedes Mal vom Fernsehen übertragen. Außerdem kommen 100 000 Leute von weit her, um das Geschehen live zu beobachten. Über den kleinen Fluss Ems geht es bis zum Meer. Das ist Millimetersache. 12 Stunden dauert so eine Fahrt unter normalen Bedingungen. Passieren darf nichts: Jeder Tag, den das Schiff zu spät kommt, kostet viel Geld.
Umweltschützer sehen die Fahrt über die Ems mit gemischten Gefühlen. Denn in den letzten Jahren kam immer wieder der Bagger, der den Fluss dem Maß der Schiffe anpasste - ein gewaltiger Eingriff in die Natur. Auf der anderen Seite ist die Werft mit ihren 2 500 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Region. Dazu gehören die vielen Zulieferfirmen in der Nachbarschaft, die noch einmal 2 500 Menschen beschäftigen. Jetzt hat man kurz vor der Mündung ein Sperrwerk gebaut. Das sorgt während der Überführung für ausreichend Wasser unter dem Kiel. Darum, sagen die Werftbetreiber, braucht man in Zukunft weit weniger baggern. Außerdem soll das Sperrwerk Schutz bei Sturmfluten bieten.

Manchmal ist man müde

Rainer hat schon öfter zugesehen, wenn Schiffe von der Meyer Werft durch die Wiesen fuhren. Jetzt arbeitet er selbst beim Bau solcher Schiffe mit. Man merkt, dass er stolz darauf ist. Doch erst einmal muss er viele neue Dinge lernen. Die Arbeit dauert sieben Stunden täglich. Weil er noch nicht 18 ist, hat er eine Stunde Pause. Als Azubi im ersten Lehrjahr geht Rainer außerdem zwei Tage pro Woche in die Berufsschule. Manchmal findet er die Ausbildung anstrengend: „Sieben Stunden feilen – davon wird man müde!“ Zu Hause ruht er sich dann erst einmal aus. Essen gibt`s bei ihm erst abends. „Das mach ich mir selber, sonst gibt’s nichts!“, erzählt er. Rainers Freizeit ist meistens fest verplant. Er spielt Tischtennis im Verein. Am Wochenende ist er viel unterwegs. Mit dem Fahrrad fährt er zu Freunden, und abends mit der „Nachteule“9 in die Disko im nächsten Ort.
In Zukunft wollen die beiden Brüder erst einmal bei der Meyer Werft bleiben. "Ein paar Jahre arbeiten“, ist Karstens Wunsch, "und später vielleicht noch studieren.“ Rainer möchte seine Ausbildung erfolgreich hinter sich bringen. Weiter plant er noch nicht.
Christian Vogeler

1 Geselle - fertig Ausgebildete/r
2 Azubi - Auszubildende/r
3 Blaumann - umgangssprachlich für: blauer Arbeitsanzug
4 Spind - Schrank in der Firma für Berufskleidung
5 Baudock - Vorrichtung, in der Schiffe gebaut werden
6 Kantine - restaurantähnliche Einrichtung z.B. in Betrieben
7 Feierabend - Arbeitsschluss
8 das reicht dicke – das reicht auf jeden Fall
9 Nachteule - Ein Bus, der abends in dieser ländlichen Region für junge Leute eingesetzt wird
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