Die Gegenwart der Vergangenheit
JUMA 3/2003 Seiten 34-36

Die Gegenwart der Vergangenheit

In Berlin machen schwarze deutsche Jugendliche eine eigene Zeitung. Sie heiSSt "Blite“ - ein Titel, der sich aus den beiden englischen Wörter "black“ (schwarz) und "white“ (weiSS) zusammensetzt. Damit wollen sie auf sich aufmerksam machen. JUMA begleitete sie bei Recherchen für eine Reportage, bei der es um Spuren kolonialer Vergangenheit im heutigen Deutschland geht.

Joshua, Maria und Blite-Projektleiter Oliver Seifert bei der Redaktionskonferenz. Hier legen sie den Ablauf ihrer Reportagen fest.
Etikettenschwindel

Chantal, 18, David, 16, und Maria, 15, sind auf dem Weg ins "Afrikanische Viertel“ von Berlin. Blite-Projektleiter Oliver Seifert und Politologie-Student Joshua, 22, begleiten sie.
Im "Afrikanischen Viertel“ sind viele Straßennamen nach Männern aus der Kolonialzeit des Deutschen Reiches benannt, zum Beispiel nach Carl Peters, dem "Gründer von Deutsch-Ostafrika“. Als vor einigen Jahren Kritik an der Namensgebung der Petersallee laut wurde, handelte die Stadtverwaltung: Die Petersallee erinnert jetzt an den ehemaligen Stadtverordenten Hans Peters - eine "Umwidmung, die das koloniale Straßengefüge erhält“, wie Blite-Chefredakteurin Chantal moniert. Sie nennt das einen "Etikettenschwindel“. Die Blite-Reporter informieren sich über weitere Namensschilder vor Ort, machen Fotos und gehen weiter zur "Dauerkolonie Togo“.

Spuren des Kolonialismus

Die "Dauerkolonie Togo“ ist eine Kleingartensiedlung mitten im "Afrikanischen Viertel“. Sie wurde 1939 gegründet - für Joshua ein "typischer Fall von Kolonialnostalgie“. Er ärgert sich, dass eine Gartenkolonie noch heute diesen Namen trägt: "Schließlich ist Togo seit 1960 eine unabhängige Republik.“
Die Mohrenstraße in Berlin-Mitte, nächste Recherche-Station, heißt seit über 300 Jahren so. König Friedrich I (1657–1713) ließ hier Schwarze aus ehemaligen Kolonien einquartieren. Der U-Bahnhof Mohrenstraße trägt seinen Namen jedoch erst seit der deutschen Vereinigung - obwohl „Mohren“ seit langem ein veraltetes und negatives Wort für Schwarze ist. Gemeinsam lassen sich die Blite-Reporter vor dem U-Bahnschild fotografieren, um die Absurdität dieser aktuellen Namensgebung zu dokumentieren.
Auf dem Garnisonsfriedhof Columbiadamm liegt ein frischer Gedenkkranz am "Herero-Stein“. Damit werden Deutsche geehrt, die im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika bei Kämpfen mit den Herero-Einwohnern ums Leben kamen. "Für die über 50 000 gefallenen Herero“, so David, „gibt es dagegen kein Denkmal in Berlin.“ Weiter geht es in den Stadtteil Dahlem. Hier zeigt das Ethnologische Museum zahlreiche Gegenstände wie Masken und Figuren - "Relikte aus Entdecker- und Erobererzeiten“, wie Joshua sagt. Er kritisiert gegenüber Museumsangestellten, "dass hier manche Beutekunst als Schenkung ausgewiesen wird.“
Das letzte Ziel der Blite-Reporter: das Neue Palais in Potsdam. In diesem Schloss von König Friedrich II (1712–1786) befindet sich heute noch die Spitze des Kilimandscharo, der im Erdkundeunterricht des Jahres 1900 als höchster Berg Deutschlands galt. Hans Meyer, der den Berg 1889 als erster Deutscher bestieg, brachte die Bergspitze mit nach Berlin.

Gewollte Veränderungen

Die Spurensuche hat sich für die Blite-Reporter gelohnt. Für ihren Artikel „Die Gegenwart der Vergangenheit“ wollen sie noch weitere Stationen abfahren, um ausführlich über ihr Thema berichten zu können. Ihr Ziel nicht nur bei dieser Reportage: zum Nachdenken anregen und vielleicht sogar Veränderungen herbeiführen - zum Beispiel die Umbenennung des U-Bahnhofs Mohrenstraße. Jörg-Manfred Unger

Kolonialmacht Deutschland

Nach der Reichseinigung 1871 versuchte das Deutsche Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts mit der Eroberung von Kolonien in den Rang einer Weltmacht auf-zusteigen. Dabei geriet es immer wieder mit den etablierten Kolonialmächten, vor allem England und Frankreich, aneinander. Wilhelm II., deutscher Kaiser von 1888 bis 1918, beanspruchte einen "Platz an der Sonne“ im kolonialen Wettlauf der Zeit. Auf dem Höhepunkt umfassten die Kolonien ca. 3 Millionen Quadratkilometer mit rund 14 Millionen Einwohnern, davon 24 000 Deutsche. Zu den so genannten deutschen Schutzgebieten gehörten in Afrika Deutsch-Südwestafrika (das heutige Namibia), Togo und Kamerun sowie Deutsch-Ostafrika (das heutige Tansania); in Ostasien waren ein Teil der Pazifikinseln von Neuguinea bis zu den Marianen, Samoa und das chinesische Tsingtau (Qindao) deutsche Kolonien. Nach dem 1. Weltkrieg musste Deutschland 1919 auf seine Kolonien verzichten
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