Miniminzbonbons
JUMA 3/2003 Seiten 42-43

Kleine Köstlichkeiten mit Nachgeschmack

Miniminzbonbons

1 406 Schülerinnen und Schüler nahmen 2002 an einem bundesweiten Schreibwettbewerb der Berliner Festspiele teil. 21 wurden zum 17. "Treffen Junger Autoren“ nach Berlin eingeladen. Christine Küfner, 22, aus Weißenburg in Bayern war eine von ihnen. Sie überzeugte die 9-köpfige Jury mit ihrem Text "Miniminzbonbons“, den sie unter dem Pseudonym Anna Doriastan verfasst hatte.

A. schweigt. Nach einiger Zeit meint sie laut: "Es ist so ruhig.“ Aber in dem Moment, als sie das sagt, ist es gar nicht mehr ruhig. Seltsam.
Also schweigt sie wieder, bis sie meint: "Es ist immer noch so ruhig“, obwohl es genau in diesem Moment nicht mehr ruhig ist.
So etwas!
Das versteht A. nicht, also schweigt sie wieder und denkt nach. Es ist ganz still. A. hört sich atmen, aber ganz leise. Sie grübelt angestrengt, bis ihr eine Idee kommt. Sie holt, ganz leise natürlich, tief Luft und sagt: "Wenn ich nichts sage, ist es ganz ruhig.“
Das stimmt endlich.
Und zufrieden mit sich selbst, lächelt A. ganz leise vor sich hin.

II

A. sitzt am Fenster und schaut hinaus. Jemand fragt: „Was denkst du?“
A. sagt: "Nichts“, und denkt weiter. Nach ein paar Minuten fragt der Jemand wieder: "Was denkst du jetzt?“ A. denkt nach und sagt: "Nichts.“ Und dann fällt ihr auf, dass es unmöglich ist, nichts zu denken. Selbst wenn man es versucht denkt man plötzlich, dass man im Moment nichts denkt und damit denkt man ja schon wieder. Sie blinzelt. Der Jemand blickt sie an und meint: "Du denkst doch über irgend etwas nach?“
A. überlegt kurz und sagt: "Ich denke an das Nichts, das man nicht denken kann, denn wenn man denkt, man denkt nichts, denkt man ja! Der Jemand drehte sich böse um und glaubt, dass A. ihn nicht mehr liebt, weil sie ihn nicht ernst nimmt. Das merkt sie und ist auch böse, weil der Jemand sie nicht versteht. Sie sieht verärgert aus dem Fenster - und denkt an nichts.

III

A. lacht. Sie lacht, weil sie so traurig ist. Aber weil sie ja jetzt lacht, ist sie gar nicht mehr traurig. Obwohl sie vorher geweint hat. Aber man kann ja nicht weinen und gleichzeitig lachen.
A. war sehr, sehr traurig, weil heute ein schlechter Tag war. Deshalb schreibt sie einem Freund einen Brief. Und während sie schreibt, muss sie so sehr weinen, dass alle ihre Tränen auf das Blatt fallen und sich mit der schwarzen Tinte vermischen. Doch A. merkt das gar nicht, weil sie so in Gedanken versunken ist. Als die Seite voll ist und der Brief zu Ende, sieht sie durch ihren Tränenschleier, dass das Blatt voll verlaufener Tinte ist, das Papier sich wellt und man keinen Buchstaben mehr lesen kann. Das sieht seltsam aus. Und über ihr Missgeschick muss sie lachen, obwohl ihr nicht nach lachen zumute ist. Aber sie lacht und in ihren Augen stehen Tränen.

IV

A. hatte ein schönes Gedicht gelesen. Als sie allein ist, will sie etwas Großes, außergewöhnliches schaffen und sagt: "Ich schreibe ein Gedicht, ich dichte.“ Und sie fängt an.
Als das Gedichtete fertig ist, ist sie stolz. Sie liest es, bis sie es auswendig kann, ihr eigenes Geschriebenes. Sie fühlt sich groß, weil sie viele Wörter willkürlich zusammengesetzt hat und findet, dass es nach etwas Großem klingt. Also liest sie es dem Jemand vor.
Er sagt, er verstünde es nicht, aber es sei auch nicht gut. Der Jemand liebt mich nicht mehr, denkt sie. Dann liest sie es dem Freund vor. Er sagt, er verstünde es sehr gut. Die Botschaft sei klar und die Wortwahl besonders bemerkenswert. A. zerreißt ihre gedichtete Wortwürfelei sofort. Denn wie kann der Freund sagen, er verstünde es, wenn es dabei gar nichts zu verstehen gibt? Man kann doch keine willkürlich gewürfelten Wortdichtereien ver-stehen. Unzufrieden mit der ganzen Welt denkt die große kleine Dichterin Gefühle in Worten.

V

A. ist ein Vogel. Sie fliegt mit ausgebreiteten Armen durch das Gebäude, dessen Mauern ihre Freunde geworden waren. Aber jetzt soll sie Abschied nehmen. Sie lässt sich Zeit, um kein Wort der Mauern zu überhören. "Wie fühlst du dich?“, fragt einer. "Traurig“, sagt sie und sieht sein verächtliches Lächeln, das sie verletzt. Mit gesenktem Kopf läuft sie weiter. Da kommt der Freund und fragt: "Wie fühlst du dich?“ und sie breitet die Arme aus und sagt: "Glücklich“. Der Freund sieht ihre Träne und lächelt auch.

VI

A. macht eine Reise. Sie freut sich darauf. Ihr Leben gefiel ihr nicht mehr und sie wollte aus der Ferne darauf blicken. Sie war auf der Suche - auf der Flucht vor ihrem Leben. Aber die Reise war nicht sehr schön, denn A. fühlte sich einsam und hat Heimweh. Jetzt vermisste sie Ihr Leben, denn von Weitem sah es viel besser aus. Dann ist
die Reise zu Ende und sie kehrt zurück. "Wie war es?“, fragt der Freund.
"Schön“, sagt sie.

VII

A. sieht den Sonnenaufgang. Er malt rosa Wolken auf den blauen Himmel. Überwältigt versucht sie, das Unfassbare in Worte zu fassen – und scheitert. Alle Menschen scheinen noch zu schlafen, aber wie konnten sie denn so etwas Schönes verpassen?
Sie geht zum Jemand, aber er schläft noch. Sie ruft den Freund, aber er schläft auch noch. Sie ist böse auf die dummen Menschen und stellt sich alleine zurück ans Fenster. Plötzlich kitzelt sie der allererste Sonnenstrahl und sie lächelt. Sie fühlt, dass dieser Sonnenstrahl nur für sie alleine scheint. Und so steht sie einsam - und glücklich.

VIII

A. rennt hinaus. Über Nacht hatte es geschneit und sie springt nun vergnügt durch den Schnee. Er hatte die Welt in einen weißen Wattemantel gehüllt. Aber die Menschen freuen sich gar nicht. Sie stampfen miss-mutig umher, frieren und schimpfen. "Warum freust du dich nicht?“, fragt sie den Jemand. Er schaut sie nur unfreundlich an. Ganz tief in seinen Augen sieht sie, dass er sich gerne freuen und wie ein Kind im Schnee tollen würde. Aber der Jemand ist nun eben ein Erwachsener. Da wird A. traurig, weil sie Angst hatte, sich auch irgendwann einmal nicht mehr über den Schnee freuen zu dürfen - und blickt gedankenverloren in den Himmel.

IX

A. sammelte. Sie sammelte Blicke - in Gläsern. Eine ganze Reihe davon hatte sie auf dem Regal stehen und wusste ganz genau, welcher Blick in welchem Glas für die Ewigkeit bewahrt wurde. Doch eines Tages stieß sie in Unachtsamkeit an eines der Gläser. Es fiel zu Boden und zerbrach. Es war das Glas mit einem sehr traurigen Blick. Dieser schwebte ganz kurz mitten im Raum, ließ sie seufzen und verschwand – für immer.
Da lächelte sie, denn der traurigste Blick, den sie hatte, war fort und würde nie wieder kommen. Doch sie sah, dass nun ein Glas in der ganzen langen Reihe fehlte und die große Sammlung unvollständig war. Und ihre Augen blickten sehr traurig.

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