Besuch aus einer anderen Welt JUMA 1/2003
JUMA 1/2003 Seite 22-23

  Besuch aus einer anderen Welt

Die Stadt Frankfurt fördert Schüleraustauschprogramme mit Partnerstädten in Frankreich, Spanien, England, Irland und Italien. Seit kurzem ist ein neues Land dazugekommen: China. In diesem Jahr besuchte zum zweiten Mal eine Schülergruppe aus Guangzhou die Stadt am Main.

Mit geschicktem Reiben bringt Li Hui Lai die Schale zum Klingen und das Wasser darin zum Tanzen. Für die einen ein physikalisches Experiment, für die anderen sinnliche Erfahrung.
Gemeinsam stehen sie im Kreis. Plötzlich machen die chinesischen und deutschen Jugendlichen einen Schritt zur Seite. Doch der Stock vor ihnen darf nicht umfallen. Darum lassen sie den eigenen Stock los und versuchen, den Stock des Nachbarn zu "fangen“. Mit nur einem Finger!
Eine Woche lang sind 21 chinesische Schülerinnen und Schüler von der 109. Mittelschule in Guangzhou mit ihren Begleitern zu Gast bei deutschen Jugendlichen von verschiedenen Frankfurter Schulen. Offizielle Empfänge wechseln sich ab mit Besichtigungen und einem Wochenende bei deutschen Gastfamilien.
Die Übung mit dem Stock ist nur ein Beispiel für das, was die deutsch-chinesische Gruppe an diesem Freitag macht. Ein Schlossbesuch stand auf dem Programm. Doch was die chinesischen Gäste in und um Schloss Freudenberg erleben, haben sie nicht erwartet. Ein "Erfahrungsfeld der Sinne und des Denkens“ statt repräsentativer Bauten, düstere Keller und verstaubte Hallen mit geheimnisvollen Instrumenten statt fürstlicher Räume und edler Möbel. Überall kann man etwas ausprobieren, in Bewegung setzen oder zum Tönen bringen. Alles was man dazu braucht, ist Fantasie.
Als wieder mal ein Stock umfällt, nutzt Li Hui Lai, 18 Jahre, die Pause und posiert als Kendo-Kämpfer. Wie man sieht, hat der Schüler Spaß an den verschiedenen Spielen und Experimenten. "Dass Gruppen etwas gemeinsam machen, ist für unsere chinesischen Gäste neu“, erklärt Benedicte Crébressac vom Stadtschulamt, zuständig für das Programm. "Das Kollektiv spielt zwar eine große Rolle in China, doch jedes Mitglied der Gruppe legt Wert auf Individualität.“ Ziel sei es, dass man voneinander lernt. Aus diesem Grund hat sie das Schloss als ein Ziel ausgesucht. Das Angebot bietet allen Altersgruppen etwas und es gibt Gruppenerlebnisse, aber auch Freiräume für die 13-18 jährigen Partnerinnen und Partner.
Für Li Hui Lai ist der Schüleraustausch die erste Reise seines Lebens ins Ausland. Er hat sich gut darauf vorbereitet. "Deutschland ist eines der wichtigsten Länder in Europa. Frankfurt ist eine sehr schöne Stadt“, sagt er in fließendem Englisch. Und außerdem: "Eure Fußballmannschaft ist super - und ich mag deutsche Autos!“ Das klingt zwar ein bisschen nach Werbepros- pekt, doch die Begeisterung ist echt.
Auch Marcel, 16 Jahre, ist von dem deutsch-chinesischen Schüleraustausch begeistert. Im Frühjahr war er Gast von Li Hui Lai und seiner Familie in Guangzhou. Marcel nennt seinen Besuch in China "ein einzigartiges Erlebnis“. 2 1/2 Wochen hat er die Hauptstadt der südchinesischen Provinz Guangdong kennen gelernt. Fast neun Millionen Einwohner wohnen am Perlfluss - mehr als doppelt so viele wie in Frankfurt, wo knapp vier Millionen Menschen leben.
Frau Zhou, Schulleiterin der 109. Schule, erzählt, wie es zu dem Austausch kam: "Menschen der Wirtschaft und Kultur unserer Partnerstädte haben schon lange Kontakt miteinander, doch Schulen kaum. 2000 kam ein Orchester unserer Schule nach Frankfurt und spielte an einer Schule. Dort entstand die Idee des Austausches.“ Zunächst musste man einige Hürden überwinden. Aus Kostengründen organisierte die deutsche Seite die Reise selbst, kümmerte sich um Fahrten, Papiere und Unterkünfte. "Doch wir mussten auch die Eltern überzeugen, denn es war eine Fahrt ins Unbekannte“, berichtet der Frankfurter Lehrer Klaus Weißbecker, der die deutsche Gruppe nach China begleitete. Aus den Erfahrungen der ersten Reise im Jahr 2001 hat man gelernt. Mehrere Vorbereitungsabende mit Chinesisch-Lektionen und Informationen über chinesische Geschichte und Kultur waren Pflicht für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der zweiten Reise.
Mittlerweile ist das Interesse an dem Austausch mit China deutlich gestiegen - auf beiden Seiten. "Wir haben ganz unterschiedliche Kulturen und können viel voneinander lernen“, meint Frau Zhou, und das ist auch die Ansicht von Herrn Weißbecker: "Man kommt zu Menschen, die anders leben, anders denken und anders empfinden. Viele deutsche Jugendliche denken: So wie wir leben, ist es richtig. Doch es gibt auch andere richtige Wege. Wer bei diesem Schüleraustausch mitgemacht hat, hat gelernt, das zu respektieren.“

Christian Vogeler

 

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