JUMA 3/2004 Seite 32-35

Steine aus dem Werk der Kölner Künstlerin Gesina Liebe
  Verschwunden

Die Idee
"Immer mehr Werte verschwinden aus unserer Gesellschaft. Gleichzeitig wird die deutsche Sprache immer ärmer." Das sagt die Kölner Bildhauerin Gesina Liebe. Sie beschloss, den Zusammenhang zwischen Werteschwund und Sprachverarmung mit einer Installation (1) deutlich zu machen. Doch es sollte kein Projekt im Elfenbeinturm (2) werden. Die Künstlerin wollte Jugendliche an dem Projekt beteiligen. Sie fand 20 Schülerinnen und Schüler eines Philosophiekurses, die mit ihr ein halbes Jahr lang über Werte und Modesprache diskutierten. Die Begriffe, die man gemeinsam fand, waren die Basis für Gesina Liebes Installation.

Die Installation

Das Sprachwerk besteht aus 32 Schieferplatten und 32 Betonplatten. Auf den Schieferplatten befinden sich die Inschriften der vom Verschwinden bedrohten Werte. Gesina Liebe hat die Begriffe mit der Schleifmaschine bearbeitet, um das Verschwinden deutlich zu machen. Auf den Betonplatten befinden sich Worte der neuen Sprache. Die beiden Steinstraßen sind durch eine Wasserstraße getrennt. Der Betrachter geht zunächst an den Schiefertafeln entlang, dann an den Betonplatten. Das Wasser wirkt wie ein Spiegel - ein Spiegel, den die Künstlerin der Gesellschaft vorhalten will.

Ansichten der Künstlerin

Meine Aussage ist kein Vorwurf an die Jugend. Ich wollte die Jugendlichen mit ihrer Meinung an dem Projekt beteiligen ...

Der Begriff "Würde“ stand bei den Jugendlichen an erster Stelle ...

Werte verschwinden, und die Sprache reagiert. Das sieht man heute beispielsweise deutlich in der Werbung ...

Wir sollten die Sprache nutzen. Ist die Sprache wortreich, ist die Kultur kulturreich ...

Wenn Werte verschwinden, wird irgendwann der Ruf nach einer harten Hand wieder laut ...

Werte werden heute von vielen Erwachsenen nicht mehr vermittelt ...

Meinungen der Schüler

Werte

Viele sprechen heutzutage von einer Rückbesinnung auf die alten und traditionellen Werte. Doch welche sind das? Um welche Werte kann es sich handeln, wenn kein Mensch sie mehr achtet und Treue und Ehrlichkeit Fremdwörter in der heutigen Gesellschaft geworden sind? Selbst unsere größten Vorbilder treten diese Tugenden und Werte mit den Füßen. Wie soll sich die Gesellschaft rückbesinnen?
Alexandra, 18 Jahre

Gleichgültigkeit breitet sich bei vielen Menschen aus, dadurch haben sie keine Achtung mehr vor sich selbst. Sie verlieren das Schamgefühl und ihre Würde, da sie sich andere Prioritäten gesetzt haben, zum Beispiel Materielles. Dafür weiten sie die Grenzen ihrer Taten aus und tun unwürdige Dinge für Geld. Wer so weit geht, hat keine Achtung mehr vor sich selbst und vor anderen Menschen.
Lei Zhu, 18 Jahre

Mut ist notwendig, um mit der natürlichen menschlichen Angst umgehen zu können. Wir sollten unsere kostbare Zeit nicht mit Angst vergeuden. Wir brauchen Mut, um uns der Vergangenheit und dem gegenwärtigen Moment stellen zu können. Mut brauchen sie auch, um mit der Ungewissheit der Zukunft fertig zu werden. Wir finden, dass Treue ein sehr wichtiger Wert ist. Treue zeugt nicht nur von Respekt gegenüber den Mitmenschen. Sie gibt diesen auch die Möglichkeit, einem zu vertrauen.
Mascha und Silja, 18 Jahre

Ich finde, Individualität ist ein sehr wichtiger und auch ein sehr schöner Wert. Und er ist immer wieder der Diskussion Wert. Meiner Meinung geht er aber nicht verloren und das ist er auch noch nie gewesen. Er war nur nie sehr stark vertreten.
Cora, 18 Jahre

Für mich ist es das Allerwichtigste, mich zu bemühen, so viele Lebensformen wie möglich kennen zu lernen, zu tolerieren und sogar mitzuleben. Ich merke einfach, dass man so viel besser zurechtkommt im Leben, mit den Menschen und den verschiedenen Kulturen.

Es ist scheinbar schon "normal“ geworden, in der Schule zu spät zu kommen oder gar nicht zu kommen, oder mit den Lehrern auf herablassende Art zu diskutieren. Es gibt unendlich viele Beispiele aus dem Leben, um zu zeigen, dass Disziplin fehlt.
Alexandra, 18 Jahre

Betonstraße

Alle diese Wörter haben einen uneleganten, zum Teil aggressiven Klang. Sie sind überaus oberflächlich, doch sagen sie mehr aus als andere Begriffe. Trotzdem sind viele von ihnen sogar in meinem aktuellen Sprachgebrauch.
Mona, 18 Jahre

Man bezeichnet etwas als "krass“, anstatt auszuführen, dass es zum Beispiel bewegend, schön, aufregend, usw. war. Hierdurch macht man es sich einfach und muss nicht genauer nachdenken, was man sagt.
Mascha und Silja, 18 Jahre

Frage: Kann Sprache "krank“ werden? Antwort: Definitiv! Frage: Ist unsere Sprache "krank“? Antwort: Definitiv nicht! Denn zumindest der Großteil der deutschen Bevölkerung ist durchaus noch in der Lage, sich verständlich zu machen. Auch in der Vergangenheit gab es Umgangssprache. Ich behaupte, dass sie noch viel verbreiteter war, als sie es heute ist, weil die Fähigkeit zu lesen den Reichen vorbehalten war.
Kalie, 17 Jahre

Meinungen zum Projekt und dessen Aussage

Ich frage mich, ob unsere heutige Gesellschaft an einem Wertverlust oder lediglich an einem Wertewandel leidet. Tatsache ist, dass sich jede Generation an irgendetwas orientiert; dementsprechend muss man heute wohl von einem Wertewandel sprechen.
Die vertrauten Werte wie Disziplin, Treue, Leistung, Fleiß wurden ersetzt durch Emanzipation, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung.
Alexandra Apel, Schülerin (Philosphiekurs)In unserer schnelllebigen Gesellschaft sollen traditionelle Werte respektiert und gelebt werden, sie stehen in keinem Fall im Widerspruch zum Internet, zur Jugendkultur oder zu den Interessen der Jugendlichen. Die jungen Menschen sollen alte Werte mit neuen Überzeugungen angehen.
Prof. Rolf Windmöller, Vorstand PwC-Stiftung Jugend Bildung Kultur (förderte das Projekt)

Der Zweck heiligt die Mittel. Die Mächtigen demonstrieren, eigentlich unübersehbar, die Unverbindlichkeit von Aus- und Zusagen. Die Beteuerung, wir lebten in einer "offenen“ Gesellschaft, suggeriert zwar Liberalität, Chancengleichheit, Zukunftsperspektiven, Gerechtigkeit und Toleranz, aber die Realität ist gekennzeichnet durch soziale Kälte, Gnadenlosigkeit am Arbeitsplatz, Brüchigkeit von Beziehungen und innerer Orientierungslosigkeit.
Winfried Schorre, Psychiater, Ehemann von Gesina Liebe

Die Worte, die Frau Liebe als Symptome der Sprachverarmung sieht, sehen wir eher als Bereicherung für unsere Sprache. Sie ermöglichen uns, angemessener auf Situationen zu reagieren. Beispielsweise erleichtern uns diese Ausdrücke, Emotionen und Sachverhalte in kurze und prägnante Aussagen zu fassen, wenn uns einmal nicht nach Kommunikation zumute ist.
Diana Ostermann und Tatjana Radchenko, Schülerinnen (Philosophiekurs).

Die Aussagen und Meinungen Dritter haben wir (sprachlich vereinfacht) mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin dem Katalog zum Projekt entnommen.

1 Installation - Kunst-Objekt
2 im Elfenbeinturm - fern der Realität