JUMA 4/2002

 
"Jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ist ein Fremder, und zwar so lange, wie er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr." Karl Valentin, Münchner Kabarettist, 1940




Der, Die, Das Fremde

Die Jugendtheaterwerkstatt "cactus" aus Münster gewann beim bundesweiten Wettbewerb "Schülerinnen und Schüler machen Theater" einen Preis: Neben 7 weiteren Gruppen aus ganz Deutschland durfte sie ihr Stück "Der, Die, Das Fremde" beim 23. Theatertreffen der Jugend in Berlin aufführen und eine Woche lang an Workshops zum Thema "Theater" teilnehmen. Die Jury lobte die Tanztheater-Collage aus Münster als "bemerkenswert und beispielhaft", weil sie "eigene Erfahrungen und die Brisanz des Themas ungewöhnlich ernst nimmt" - ein Beitrag gegen Gewalt von Rechts und gegen Fremdenhass. Auszüge aus dem Skript.

Die Fremden

Lehrer: Wir haben in der letzten Unterrichtsstunde über die Kleidung des Menschen gesprochen, und zwar über das Hemd. Wer von euch kann mir nun einen Reim auf Hemd sagen?
Judith: Auf Hemd reimt sich fremd!
Lehrer: Gut - und wie heißt die Mehrzahl von "fremd"?
Elisa: Die Fremden.
Lehrer: Jawohl, die Fremden - und aus was bestehen die Fremden?
Mariam: Aus "frem“ und aus "den“.
Lehrer: Gut - und was ist ein Fremder?
Alle durcheinander: Walfisch, Kakerlakenbrei, verschimmelte Entenbeine mit Spinnen ...
Lehrer: Nein, nein, nein, nicht was er isst, will ich wissen, sondern wie er ist.
Max: Ja ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.
Lehrer: Wieso?
Max: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Lehrer: Das ist nicht unrichtig - und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?
Christina: Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, wie er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.
Lehrer: Sehr richtig! Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann ein Fremder?
Sarah: Das ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, denn dann ist ihm nichts mehr fremd.
Lehrer: Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein!
Fehrni: Gewiss, manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm in der gleichen Stadt das deutsche
Museum, die Glyptothek, die Pinakothek und so weiter fremd sind.
Lehrer: Damit wollen Sie also sagen, dass der Einheimische in mancher Hinsicht in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein
kann. Was sind aber Fremde unter
Fremden?
Judith: Fremde unter Fremden sind: Wenn Fremde über eine Brücke fahren, und unter der Eisenbahnbrücke fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind diese durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Lehrer, so schnell gar nicht begreifen werden.
Lehrer: Oho! - Und was sind Ein-heimische?
Mariam: Dem Einheimischen sind eigentlich die fremdesten Fremden nicht fremd. Der Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, er erkennt aber am ersten Blick, dass es sich um einen Fremden handelt.
Lehrer: Wenn aber ein Fremder von einem Fremden eine Auskunft will?
Sarah: Sehr einfach: Fragt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgendetwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zum Fremden, das ist mir leider fremd, ich bin nämlich selbst fremd.
Lehrer: Das Gegenteil von "fremd“ wäre also "unfremd“?
Sanna: Wenn ein Fremder einen Bekannten hat, so kann ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber die zwei zusammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese zwei Bekannten jetzt in der fremden Stadt wieder Fremde geworden. Die beiden sind also – das ist paradox - fremde Bekannte geworden
.
Die Fremde

Max: Wirtschaftsflüchtlinge – was sind eigentlich Wirtschaftsflüchtlinge?
Wirtschaftsflüchtlinge sind Leute, die von einem Land in ein anderes ziehen.
Warum?
Sie hoffen in dem Land eine bessere Arbeit zu finden.
Wieso?
In ihrem Land gibt es eine schlechtere Infrastruktur ...
Was ist eigentlich Infrastruktur?
Infrastruktur ist eine Versorgungsstruktur, die das gesellschaftliche Leben, je nachdem, wie man es definiert, ermöglicht. Das heißt: In ihrem Land gibt es keine Arbeit, keine Perspektive - sie machen sich also auf den Weg hierher - flüchten also von ihrer Wirtschaft in unsere Wirtschaft.
Wenn ich aber, nach meinem Abitur, nach München ziehe, weil es dort eine bessere Ausbildung gibt, heißt das, ich bin flexibel.
Flexibilität, das Schlagwort unserer Zeit - modernes Nomadentum.
Jeder Ossi muss bereit sein, in den Westen zu ziehen, wenn er dort eine bessere Arbeit findet - wenn jemand aus Ghana also flexibel ist, dann zieht er nach Deutschland.
Genauso wie mein Vater.
Der ist nämlich von Osnabrück nach Münster gezogen ...
... dann bin ich also genau genommen ein Sohn von Wirtschaftsflüchtlingen ...

Zuhause ist überall

Sarah: Irgendwo auf der Welt, gibt’s ein kleines bisschen Glück und ich träum’ davon in jedem Augenblick.
Irgendwo auf der Welt gibt’s ein bisschen Seligkeit und ich träum’ davon schon lange, lange Zeit.
Wenn ich wüsst, wo das ist, ging’ ich in die Welt hinein, denn ich möchte einmal recht so von Herzen
glücklich sein.
Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an.
Irgendwo, irgendwie, irgendwann ...
Judith: Die Erde ist überall.
Sarah: der Himmel ist überall.
Sanna: Zuhause ist überall.

Texte: cactus Jugendtheaterwerkstatt Müns-ter; "Die Fremden“ nach Karl Valentin, aus: Das Beste von Karl Valentin, Piper Verlag, München