JUMA 1/2002

 
Nicht für die Schule, sondern für
das Leben lernen wir!

Die Schülerinnen und Schüler der Berliner Ferdinand-Freiligrath-Oberschule lernen nicht nur bei ihren Lehrerinnen und Lehrern. "Dritte“ - Techniker, Bildhauer, Sportler, Maler, Musiker und Theaterleute - haben einen Teil des Unterrichts in so genannten Arenen übernommen. Das Projekt heißt KidS und ist die Abkürzung für "Kreativität in die Schule“.
Seine Formel lautet:
Schule = Schüler + Lehrer + Dritte - eine Idee der heutigen Schul-leiterin Hildburg Kagerer.

Die Schüler bauen gemeinsam mit dem Landschaftsgärtner Josef Niesner (vorne links) eine Kräuterspirale im Schulhof.
Erfahrung fürs Leben

Emre, 17, ist von seiner Arbeit überzeugt: "Ich bin ein Naturtalent!“ Gemeinsam mit Mitschülern baut er auf dem Schulhof eine Kräuterspirale (1) mit Tümpeln (2). Hier sollen demnächst Schnittlauch, Thymian, Oregano, Melisse und Pfefferminze wachsen. Die Schulkantine will die winterharten (3) Kräuter bei der Essenszubereitung verwenden.
Doch zuvor müssen die Schüler der "Arena Natur und Technik“ Pflöcke einschlagen und Mauern bauen. Der Landschaftsgärtner und -planer Josef Niesner hilft ihnen dabei. Er sagt: "Die Schüler lernen in der Praxis für die Praxis, zum Beispiel wozu eine Wasserwaage (4) dient und wie man damit umgeht.“ Außerdem machen die Schüler fundamentale Erfahrungen fürs Leben. "Wenn einer nichts tut“, so der Lehrer Alfhard Jänig, "muss ein anderer dafür mehr arbeiten!“

Spiegel der Wirklichkeit

Dib, 15, ist der beste Trampolinspringer. Der Universitätsassistent, Trainer für Geräteturnen und frühere Leistungssportler Jan Stocek meint, er habe das Zeug (5) zum Zirkusartisten. Aber Dib will lieber Automechaniker werden. Jan Stocek ist "Dritter“ in der "Arena Stadion“.
Der Lehrer versuchte, seinen Unterricht auch zu verÄndern. Obwohl er Lehrer war, konnte er von den "Dritten“ lernen. Das war gut, dass wir das mitkriegten. Das war auch toll von dem Lehrer.
Hier üben die Schülerinnen und Schüler Trampolinspringen. Der Sportlehrer Andreas Borchardt ist dabei. Er sagt: "Die Praxis läuft bestens, aber in der Theorie gibt es Probleme.“ "Theorie“ ist beim Trampolinspringen zum Beispiel "Sprungtechnik“.
Dem "Dritten“ Jan Stocek war "von der ersten Minute an“ klar, dass Schule heute anders ist als zu seiner eigenen Schulzeit. Es gehe viel lockerer (6) zu, aber Konflikte würden viel schneller durch Schlägereien gelöst.
Eine völlig neue Erfahrung ist für ihn der hohe Ausländeranteil an der Schule: Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sprechen Deutsch nicht als Muttersprache. Die meisten hier in Berlin-Kreuzberg haben ein türkisches Elternhaus, aber auch Araber, Bosnier, Griechen, Iraker, Kroaten, Polen, Libanesen, Serben, Tunesier, Jugoslawen, ein Afghane und ein Algerier gehören zur Schülerschaft. Für Schulleiterin Hildburg Kagerer ist das "einerseits Konfliktpotential, andererseits die Chance, im Kleinen - also in der Schule - das Zusammenleben im Großen - also in der Gesellschaft - zu lernen.“ Sie sieht Schule als "Nukleus“- als Zellkern der Gesellschaft.

Ein Projekt, das Früchte trägt

Der Schauspieler Deniz Döhler ist ein Deutsch-Türke, der sowohl deutsch als auch türkisch spricht. Er ist in diesem Schuljahr "Dritter“ in der "Arena Bühne“. Bei seiner Arbeit an der Schule braucht er ein dickes Fell (7), "denn viele können nicht zuhören oder andere ausreden lassen.“ Ein Alptraum für einen Regisseur! Aber Deniz Döhler hat auch positive Erfahrungen gemacht: "Viele entwickeln sich mit der Zeit und die Kontakte untereinander verbessern sich. Das sind die Stunden, in denen man weiß: Es lohnt sich, so etwas zu machen!“
Ich lerne vom
Lehrer was und der Lehrer lernt vom Wissenschaftler was und der Wissenschaftler hat auch noch Fragen. Das ist doch komisch, weil da doch jeder irgendwie zu einem Kind wird.
Die Schülerinnen und Schüler der "Arena Bühne“ üben unter seiner Anleitung das Stück "Ramon und Julia mit Romeo und Julika“ frei nach William Shakespeare. Es soll noch in dieser Woche in der Aula der Schule vor großem Publikum aufgeführt werden. Alkan, 16, spielt einen Priester. Wenn er seinen Text vergisst, improvisiert er. Das hat er bei Deniz Döhler gelernt. Alkan hat schon beim Bundes- präsidenten in Schloss Bellevue (8) Zauber-Kunststücke vorgeführt. Er ist auch diesmal mit Leib und Seele dabei.
Für die Tontechnik ist der "Dritte“ Joachim Neumann zuständig. Sein Beruf: Ton- und Lichtmeister. Er findet es schwierig, mit Schülern zu arbeiten: "Die Konzentration lässt zu wünschen übrig (9) und die Schüler spielen an allem herum, auch an hochkomplizierter Technik!“ Ein Wunder, dass während der Proben nur das Polster eines Kopfhörers kaputt ging!
Der Musiker Martin Michner, ebenfalls "Dritter“ in der "Arena Bühne“, hat drei Musiktitel für das Theaterstück einstudiert: ein mittelalterliches Stück, eine alttürkische Komposition und einen Rap-Song. Er weiß, dass das Projekt Früchte trägt (10). Schließlich sind mehrere ehemalige Schüler Musiker geworden; einige haben sogar einen Plattenvertrag.

Netzwerk des Wissens

Die Bildhauerin, Malerin und Lehrerin für Kunst und Theaterpädagogik Ulla Enghusen und der Bildhauer Robert Schmidt-Matt sind für die "Arena Atelier - Bildhauerei“ zuständig. Unter
ihrer Anleitung entsteht eine Sitzgruppe (11) für den Schulhof. "Bei der
Bildhauerei“, sagt Ulla Enghusen, "braucht man Ausdauer und Geduld. Es handelt sich nicht um eine schnelle Arbeit. Viele tun sich da schwer. Die Schüler müssen Formgefühl entwickeln, drei Dimensionen umsetzen usw. Malen können alle. Bildhauern nicht!“
Wenn eine Entscheidung zu treffen ist, müssen wir erst selbst versuchen, einen Weg zu finden. Wir müssen erst selbst probieren und handeln. Das ist neu für uns, aber dadurch werden wir selbstständiger.
Josip, 14, hat zur Verschönerung der Sitzgruppe eine Eule aus Stein gehauen. Jetzt arbeitet Josip an einem überdimensionalen Schuh. Er wird später mit anderen Schülerarbeiten in einer Kunst-Galerie ausgestellt und zum Kauf angeboten. "Ateliers“ wie Fotografie, Malerei, Textildesign, Grafik und Bildhauerei münden oft in solchen Verkaufsausstellungen. 30 Prozent der Erlöse erhält die Galerie. Den Rest teilen sich die Schule und der Schüler.
In der Arena "Atelier“ drehen sich auch klassische Schulfächer um die Bildhauerei. Die Schülerinnen und Schüler fertigen zum Beispiel maßstabsgerechte Modelle an, denn in Erdkunde haben sie den Umgang mit Maßstäben gelernt. Für die Flächen- berechnung brauchen sie ihre Kenntnisse in Mathematik. Verkaufsgespräche werden auf Englisch geführt. In Deutsch stehen Referate über berühmte Bildhauer auf dem Programm. Ein Netzwerk des Wissens statt isoliertes Lernen.

Ernst des Lebens

Bei BMW lernen Jassein, 16, Eren, 14, Emrah, 13, und weitere Schüler den "Ernst des Lebens“ kennen. Sie verbringen wöchentlich vier Stunden im Berliner Motorrad-Werk des Konzerns. Hier packen sie im Rahmen der Arena "Markt“ zum Beispiel Tankstutzen aus, bauen Rückstrahler zusammen oder sortieren Ersatzteile. Arbeiter und Betreuer loben die Schüler: "Sie sind schnell und geschickt!“ Jassein weiß, warum: "Hier gefällt es uns viel besser als in der Schule. Man muss nicht nur zuhören, sondern darf selbst etwas tun!“
Ich bin Fremden gegenüber offener geworden, seit ich weiß, dass ich was kann und dass ich das allen zeigen konnte.
Anfangs gab es Probleme. Die Jungen waren verspielt und balgten sich (12) in der Fabrikhalle. "Ein Sicherheitsproblem,“ so der Betreuer Steffen Meyer. Erst als sie eine Weile nicht kommen durften, änderten sie ihr Verhalten und hielten sich an die Regeln.
Die Schüler mussten lernen Anweisungen zu befolgen, pünktlich und zuverlässig zu sein und zum Beispiel keine Halsketten zu tragen, denn die können an den Maschinen zu Unfällen führen. Die Mathematik-Lehrerin Dorothee Dietrich begleitet die Schüler. Auch sie lernt durch die Arena: "Welcher Lehrer kennt schon die Arbeitswelt außerhalb der Schule?!“
BMW-Ausbildungsleiter Ulrich Franke will nach den Erfahrungen mit dem KidS-Projekt das Auswahlverfahren für Auszubildende ändern: "Schulabschluss und Noten sind keine Garantien für erfolgreiche Mitarbeiter. Viel wichtiger ist bei uns die Fähigkeit im Team zu arbeiten und Probleme zu lösen!“
Jörg-Manfred Unger

Worterklärungen
1 die Kräuterspirale - spiralenförmige Gewächsanlage für Kräuter
2 der Tümpel - der kleine Teich
3 winterharte Pflanzen - Pflanzen, die den Winter überleben
4 die Wasserwaage - Instrument zur Prüfung z.B. waagerechter oder senkrechter Flächen
5 das Zeug haben - fähig sein
6 viel lockerer - hier: weniger autoritär
7 ein dickes Fell brauchen - seelisch unempfindlich sein
8 Schloss Bellevue - der Sitz des Bundespräsidenten in Berlin
9 die Konzentration lässt zu wünschen übrig - die Konzentration könnte besser sein
10 Früchte tragen - positive Auswirkungen haben
11 die Sitzgruppe - Stühle, Bänke usw.
12 sich balgen - miteinander kämpfen (zum Spaß)

Internet-Tipp:

http://home.t-online.de/home/ffo.cids/
(Ferdinand-Freiligrath-Oberschule)