JUMA 1/2002

 
Mit dem Roller durchs Ruhrgebiet

Eine rostige Lore steht vor dem Brauhaus, einem Lokal an der Promenade des Oberhausener CentrO (1). Direkt dahinter drehen sich Karussells. Wasser plätschert in künstlichen Teichen. Dann: ein gleichmäßiges Tack-tack, Tack-tack. Ein Zug mit einer langen Reihe Kohlewaggons fährt vorbei. Im Hintergrund steht ein Förderturm. Inszenierung? Realität?
Wer ins Ruhrgebiet kommt, kann viele solcher Bilder sehen: Kulissen der Vergangenheit, eingebaut in die Gegenwart, sollen Teil der Zukunft werden. Eine Region im Umbruch. Wir haben uns mit Natascha, 18 Jahre alt, und Christian, 19 Jahre alt, im größten Geschäfts- und Freizeitzentrum der Gegend getroffen. Die beiden Schüler sollen uns mit dem Roller ihr Ruhrgebiet zeigen - und es erklären.

Es gibt viele künstliche Berge im Ruhrgebiet: Abraum aus den Bergwerken. Auf einigen stehen Objekte wie dieser Tetraeder.
Die Vergangenheit

"Früher, da war hier alles grau und düster“, erinnert sich Natascha, die seit ihrem 4. Lebensjahr in Oberhausen lebt. "Wo jetzt das CentrO steht, war früher ein Hüttenwerk. Überall gab es eiserne Rohre und viel schmutzigen Rauch.“
Kohle und Stahl, damit begann die Entwicklung des "Kohlenpotts“ (2) im 19. Jahrhundert. Die alte Lore, ein Transportwagen für die Kohle unter Tage, steht im CentrO als Symbol dafür. Die Bergarbeiter, die aus allen Teilen Preußens und Polens kamen, verrichteten schwerste Arbeit und mussten um ihre sozialen Rechte kämpfen. Sie lebten in Siedlungen abseits der städtischen Zentren. Morgen-, Mittag- und Nachtschicht bestimmten ihren Lebensrhythmus. Nach dem 2. Weltkrieg hatten die Kumpel (3) aus dem Pott einen entscheidenden Anteil am Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, oft auf Kosten der Gesundheit: "Der Opa meiner Freundin hat im Bergbau gearbeitet“, erinnert sich Natascha. An Lungenproblemen ist er gestorben. Eine typische Berufskrankheit.
. Kohle, Stahl, Chemie - so kannte man das Ruhrgebiet früher. Heute stehen viele Betriebe still. Die alten Anlagen blieben als Denkmäler einer vergangenen Zeit stehen. Manchmal war einfach der Abriss zu teuer.
"Heute sind nur noch 9 von 140 Fördertürmen übrig, und 10 Prozent der Menschen sind arbeitslos“, weiß Christian. Auch die Räder des Förderturms hinter dem CentrO drehen sich nicht mehr - Wahrzeichen einer untergehenden Industriekultur. Mehr als 600 000 Arbeitsplätze hat die Montanindustrie in den letzten 40 Jahren verloren. Konjunkturkrisen und die Konkurrenz auf dem Weltmarkt sorgten für den Niedergang. Noch rollen die Züge mit dem "schwarzen Gold“, wie man früher zur Kohle sagte, durch das Revier. Doch das Ende der Förderung ist absehbar. "Wer clever war, hat rechtzeitig auf eine andere Branche gesetzt“, meint Christian, "die Marketing-Manager in Oberhausen zum Beispiel. Die sorgen heute dafür, dass sich das Ruhrgebiet verändert.“ Bereits in den sechziger Jahren gründete man Universitäten und Fachhochschulen. Damit entstand die Grundlage für neue Industrien und Arbeitsplätze. Die Wirtschaftsstruktur an der Ruhr begann sich zu verändern.

Die Gegenwart

Die Bergleute lebten in eigenen Siedlungen. Auch heute sind die Häuser noch bewohnt. Einige stehen unter Denkmalschutz.
Im neuen Pott spielen auch neue Techniken eine Rolle: Solarzellen für den Weltmarkt werden hier produziert. Computerfirmen haben die Fördermittel des Staates genutzt und sind hergezogen. Und die alten Zechen (4) und Hüttenwerke (5), die Wassertürme und Gasometer (6)? Einige stehen noch. Neues Leben hat das alte dort abgelöst. "Während einer Projektwoche haben wir einiges davon erkundet“, berichtet Christian. Das alte Gasometer Oberhausen ist jetzt ein Ausstellungsgebäude. Dort konnte man das Projekt "The Wall“ der Künstler Christo und Jeanne-Claude besuchen. Später gab es in dem runden Turm eine Ausstellung über 100 Jahre Fußball in Deutschland. Im alten Wasserturm in Mülheim entstand das Wassermuseum Aquarius, das mit einem interaktiven Multimediakonzept Besucher anzieht. Und in einigen stillgelegten Zechen kann man besichtigen, wie das Arbeitsleben dort unter und über Tage ablief. "Route der Industriekultur“ haben die Tourismus-Experten den Weg zu den Denkmälern genannt. Mit Fahrrädern oder öffentlichen Verkehrsmitteln ist man schnell dort. Schilder weisen den Weg. Auch alte Siedlungen der Zechenarbeiter stehen noch. Der Denkmalschutz verhindert, dass sie abgerissen werden. In einigen kann man als Gast übernachten, in anderen wohnen Menschen, die sich keine teure Wohnung leisten können.
Doch Museen und Denkmäler sind längst noch nicht alles. "Das Freizeitangebot ist einfach gigantisch“, findet Natascha. Auf einer alten Halde haben Geschäftsleute eine Skihalle errichtet, auf einer anderen findet man einen Mountainbike-Parcours. In Duisburg klettern Hobby-Bergsteiger durch die stillgelegten Industrieanlagen, und Taucher trainieren dort in einem riesigen Tank. Nachts ist das frühere Hüttenwerk durch eine Lichtinstallation kilometerweit zu sehen. "Voll im Trend sind Diskotheken in alten Industriegebäuden“, weiß Christian; "die stellen da einfach eine Musikanlage und Theken rein. Die Dekoration ist ja schon da.“ Theater, Kinos und Konzerte locken die Besucher an.

Und die Zukunft?

Schafft es das Ruhrgebiet, genug Arbeitsplätze für die nächsten Generationen zu schaffen? Das ist die große Frage. "Als das CentrO gebaut wurde, standen hier Parkplätze voller Wohnwagen. Arbeitskräfte, die von überall kamen und nach der Fertigstellung wieder verschwanden“, berichtet Christian.
Dienstleistung heißt eine oft genannte Branche für den Arbeitsmarkt der Zukunft. Doch was wird dort geboten - langfristige Arbeitsstellen oder die schnelle Mark? Natascha kennt einige Jugendliche, die in den Läden des Einkaufszentrums jobben - auf 630-DM-Basis (6). "Die lassen sich Zeit mit ihrer Berufsentscheidung“, glaubt sie, "da ist das Jobben ganz bequem.
. Science Fiction oder Schrott? Im Industriepark Duisburg-Nord werden die alten Anlagen nachts futuristisch beleuchtet - eine touristische Attraktion, die man schon von weitem sieht.
Doch damit können sie kaum alt werden.“
In einem Internet-Job-Café bemühen sich private Berater, Stellen zu vermitteln. "Das funktioniert besser als beim Arbeitsamt“, denkt Christian, "die haben einfach mehr Interesse an den Leuten.“ Andere Initiativen beschäftigen junge Leute ohne Job in Fahrrad-Reperaturläden und vermitteln sie für Gartenarbeiten.
Landschaftsbau ist ein Beruf, von dem sich einige Jugendliche etwas versprechen. Denn an vielen Stellen zwischen Dortmund und Duisburg ist die Veränderung weiter im vollen Gange. Noch mehr Parks und Freizeitanlagen sollen den Standort Ruhrgebiet für neue Firmen und deren Mitarbeiter interessant machen. Da braucht man Menschen, die so etwas bauen.
Auch Natascha und Christian, demnächst mit dem Abitur in der Tasche, planen ihre Zukunft im Revier. "Ich möchte Medienkommunikation und Medienmanagement studieren, vielleicht in Duisburg“, sagt Natascha. "Warum ich hier bleibe? Man hat alles um die Ecke, das Studium, den Job, die Freizeit. Das finde ich sehr praktisch.“ Christian will ein Studium in Bochum beginnen: " Eine Fächerkombination, die es nicht an allen deutschen Hochschulen gibt.“
Natascha und Christian kennen nur wenige Jugendliche, die weg wollen: "Wenn, dann nach Hamburg, München oder Berlin - in die Anonymität der Großstadt.“ Nanu? Die Städte des Ruhrgebiets sind ja auch nicht gerade klein! "Schon - doch bei uns kennt man wenigstens seine Nachbarn noch!“
Christian Vogeler

1 CentrO - Abk. für: Centrum Oberhausen
2 Pott, Kohlenpott, Revier - andere gebräuch- liche Bezeichnungen für das Ruhrgebiet
3 Kumpel - umgangssprachlich für: Bergmann
4 Zeche - Bergbaubetrieb
5 Hüttenwerk - Betrieb zur Gewinnung von Eisen und Stahl
6 Gasometer - Gasspeicher
7 630-DM-Basis - Grenzbetrag für steuerfreies monatliches Einkommen

Internet-Tipps:
www.ruhrgebiet.de
www.ruhrbergbau.de
www.zwischenemscherundruhr.de
www.route-industriekultur.de
www.aquarius-wassermuseum.de