JUMA 4/2001

  Land ohne Grenzen

Europa wächst zusammen. Früher konnte man noch Grenzen sehen: Schlagbäume, Zäune, Zollbeamte. Heute ist das alles weg. Nur ein paar Schilder zeigen, dass man in ein anderes Land kommt. Doch was ist mit den Menschen? Sind sie in Europa angekommen? JUMA hat einen Ort besucht, wo es eigentlich nie eine Grenze gab ...

Die Grenze verlief genau in der Mitte der Neustraße. Erst trennte ein Zaun die deutsche und die niederländische Seite. Später kamen Blöcke aus Beton, die man nicht überqueren durfte (rechts).
Schuld daran ist der Wiener Kongress. 1814-15 zogen die europäischen Herrscher neue Grenzen in Europa. Dabei wurde das Land von Rode geteilt. Dieses Gebiet nördlich von Aachen war sieben Jahrhunderte eine Einheit gewesen. Nun gab es auf einmal das niederländische Kerkrade und das preußische Herzogenrath. Doch es blieben der gleiche Dialekt, die vielen familiären Beziehungen und die sozialen Kontakte. Soviel zur Vorgeschichte.

Heute merkt man nicht einmal, auf welcher Seite man gerade ist. Beide Städte sind zusammengewachsen. Nur: die eine Seite ist niederländisch und die andere deutsch. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Fragt man Jugendliche, die hier wohnen, merkt man das schnell.

Kein Anspruch auf ein Schülerticket.

Tobias, 20, Deutscher, hat eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande. Der Abiturient wohnt seit 1993 in Kerkrade. Damals waren die Mieten in Aachen stark gestiegen: "Wir wollten ein Haus kaufen. Das war in Holland günstiger“, erzählt Tobias. Später gab es auch Nachteile: Wenn man sein Haus renoviert, bekommt man in Deutschland manchmal steuerliche Vergünstigungen. Die gibt es für ein Haus in den Niederlanden nicht.
Teuer wird es auch, wenn man mobil sein will: "Ich musste meinen Führerschein in Kerkrade machen. Das ist viel teurer als in Deutschland.“ Autos übrigens auch. Man zahlt eine hohe Luxussteuer darauf. "Zum Tanken fährt man sowieso nach Deutschland. Noch ist das Benzin viel billiger!“ Seinen alten Roller darf Tobias in den Niederlanden nicht benutzen: Er fährt 5 km/h schneller, als die Gesetze es erlauben.
Tobias geht in Deutschland zur Schule. Jeden Morgen muss er mit dem Bus fahren. Wenn man in Deutschland wohnt, bekommt man dafür ein preisgünstiges Schülerticket. Tobias nicht: Er muss sich ein normales Ticket kaufen. Doch Tobias sieht auch die positiven Seiten: "Mein Bekanntenkreis hat sich erweitert. Ich habe einen sehr guten holländischen Freund, mit dem wir öfter etwas in Holland unternehmen. Er spricht perfekt Deutsch. Ich lerne gerade Niederländisch.“ Mit dem Verstehen klappt es schon ganz gut. "Hier in der Grenzregion kann man die Holländer besser verstehen als in Amsterdam.“

Die Zukunft heißt Eurode

Das alte Kloster auf niederländischer Seite heißt Rolduc - von Rode-le-duc: der Herzog von Rode. Viele Namen hier haben irgendwie mit dem alten Namen Rode zu tun. Kerkrade - die Kirche von Rode. Herzogenrath - hier wohnte der Herzog auf der Burg Rode. Im Kloster ist nicht nur das Gymnasium, sondern auch das Eurode-Büro untergebracht.
Eurode - dieses Kunstwort steht für Europa und das Land Rode. Im Eurode-Büro will man beide Gemeinden zur ersten europäischen Stadt vereinen. Der Weg dorthin ist weit. Viele nationale Gesetze stehen im Weg. Doch mit "Experimenten in der Grenzregion“ und einem "gewissen Maß an Anarchie“ versucht man die Gesetze zu umgehen oder eine Änderung zu erreichen. Ziel ist eine Grenzstadt mit weniger Problemen als bisher. Neuestes Projekt ist das Eurode Business Center. Es steht mitten auf der Grenze. Hier werden Firmen und Organisationen arbeiten, die auf beiden Seiten der Grenze tätig sind.

Studium in den Niederlanden

Sebastian, 20, ist seit vier Jahren Niederländer. Seine Eltern sind gebürtige Deutsche. Sie wohnen schon seit 27 Jahren in Kerkrade. "Die Niederländer sind viel lockerer als die Deutschen“, findet Sebastians Vater. Das hat ihm schon immer gefallen, auch darum ist die Familie hergezogen. Der Vater arbeitet in Deutschland. Er ist aber in der Freizeit oft mit Holländern zusammen. Sohn Sebastian ist zweisprachig und geht in den Niederlanden zur Schule.
Sebastian ist relativ oft in Deutschland. Nur wenige hundert Meter von seinem Haus steht ein deutsches Fitnesscenter. Dort trainiert er regelmäßig. In dem Einkaufszentrum direkt daneben hat er einen Schülerjob. Die Diskos findet Sebastian auf der deutschen Seite besser. In den niederländischen Diskos läuft nicht die Musik, die er mag.
Studieren will Sebastian in den Niederlanden: "Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Informatik. Die Ausbildung ist sehr praxisnah, nicht so theoretisch wie an vielen Universitäten.“ Er hat gehört, dass die Absolventen direkt eine Stelle finden. Wo er einmal arbeiten will? "Dort, wo ich am meisten verdiene“, meint Sebastian. Im Moment sind die Löhne in Holland noch niedriger als in Deutschland, also denkt er auch an eine Zukunft in Deutschland. Allerdings sagt er: "Ich würde Niederländer bleiben.“ In jeder Beziehung: "Wenn Fußball ist, bin ich für Holland.“

Gemeinsame Projekte

Das Städtische Gymnasium Herzogenrath und das Gymnasium Rolduc sind nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Das Schulsystem ist unterschiedlich: In den Niederlanden geht man sechs Jahre zur Grundschule, in Deutschland vier. Das Gymnasium dauert sechs Jahre, in Deutschland sind es neun. Der Unterricht in Kerkrade dauert bis drei Uhr, in Herzogenrath ist spätestens mittags Schluss. Für die weiterführende Schule zahlt man in den Niederlanden Schulgeld, in Deutschland nicht.
Fünf Prozent der Schüler des deutschen Gymnasiums wohnen in Kerkrade. Umgekehrt gibt es keine Schüler, die in Herzogenrath wohnen und in Kerkrade zur Schule gehen: Wer in Deutschland wohnt, muss dort zur Schule gehen. Am Städtischen Gymnasium Herzogenrath können die Schüler Niederländisch als Fremdsprache wählen. Das ist an deutschen Schulen normalerweise nicht möglich. An den meisten niederländischen Gymnasien kann man dagegen Deutsch wählen.
Bei den Schulen in der Region wird Zusammenarbeit groß geschrieben. Gemeinsame Projekte beweisen das. "Im Westen Deutschlands fiel die Mauer erst 1995“ hieß eine viel beachtete Dokumentation über die wechselvolle Geschichte der Neustraße; die Grenze verläuft in ihrer Mitte. Deutsche und niederländische Schüler arbeiteten gemeinsam an dem Thema. Sie gewannen mit diesem Projekt beim Wettbewerb "Spuren suchen“ einen Preis. Grenzen überschreitend war auch ein Projekt zum Thema Nationalsozialismus, an dem sich Schüler des College Rolduc und der Erich-Kästner-Schule beteiligten. In den Grundschulen und Basisscholen gibt es "Eurobabel“. Mit diesem Projekt will man Sprache und Kultur der Grenzregion vermitteln. In Zukunft soll die Zusammenarbeit noch enger werden. Die Schulleiter denken sogar an eine gemeinsame Europa-Schule!

Die beste Freundin ist Deutsche

Kristina, 19, hat einen philippinischen Vater und eine deutsche Mutter. Sie lebt in den Niederlanden und geht hier zur Schule. Die ganze Familie hat niederländische Pässe. "Zu Hause sprechen wir Niederländisch“, erzählt Kristina. Allerdings hat sie eine besondere Beziehung zu Deutschland: "Die Sprache und die Kultur gefallen mir besser.“ Ihre beste Freundin ist eine Deutsche, die seit ihrem 5. Lebensjahr in den Niederlanden wohnt. Einen wichtigen Teil ihrer Freizeit verbringt sie in einer christlichen Gemeinde in Aachen: "Ich gehe einmal in der Woche zum Hauskreis nach Deutschland. Die meisten Mitglieder sind indonesische Studenten, wir haben aber auch Mitglieder aus Singapur, Bulgarien und Deutschland.“
Kristina würde gerne in Deutschland wohnen. Ihr gefällt die Atmosphäre besser. Doch zunächst hat sie andere Pläne: "Nach der Schule möchte ich etwas mit Musik machen und etwas im sozialen Bereich, vielleicht bei einem Straßenkinder-Projekt auf den Philippinen.“

Der Zeitzeuge

Theo Kutsch kennt seine Heimat wie kein Zweiter. Der 76-Jährige erinnert sich gut an die Zeit seiner eigenen Kindheit. "Egal, ob Deutscher oder Niederländer, wir waren eine Einheit“, erzählt er von der Zeit vor dem Krieg. Danach gab es auch Zeiten des Hasses und des Misstrauens. Vielleicht ist Theo Kutsch darum so ein leidenschaftlicher Kämpfer für Europa geworden. Viele Aktionen zur Beseitigung der Grenze hat er selbst angeregt, organisiert oder mitgemacht. Auch heute noch ist er aktiv. "Viele junge Leute vergessen heute, wo ihre Wurzeln sind“, hat er festgestellt. Darum geht er in Kindergärten, Schulen und Vereine. Dort erzählt er von der Geschichte und der Sprache der gemeinsamen Heimat.

Gute Diskos gibt es auf beiden Seiten

Guido, 19, ist Deutscher und lebt in Herzogenrath. Seine Freizeit gehört dem Sport. Darum fährt er relativ oft über die Grenze: "Ich spiele im Winter Tennis in Holland. Die Platzgebühr ist wesentlich niedriger.“ Sein Trainer ist Holländer. In der Grenzregion gibt es regelmäßig Turniere - auf deutscher, holländischer und belgischer Seite.
Das Sportprogramm in Kerkrade ist größer als in Herzogenrath, findet Guido. Es gibt eine Sommerskipiste, einen Golfplatz und einen Hockeyverein. Nicht zu vergessen: der Fußball.
"Mein Freund spielt in Kerkrade Fußball“, berichtet Guido. "Dort ist die Jugendförderung wesentlich besser. Er bekommt die Ausrüstung gestellt und hat vier- bis fünfmal in der Woche
Training.“
Ein Grenzgänger ist Guido auch aus anderen Gründen: "Ich höre House- und Techno-Musik, die es in Deutschland gar nicht zu kaufen gibt. Klamotten kaufe ich in Aachen oder in Heerlen. In Heerlen sind die Boutiquen jugendlicher. Gute Diskotheken gibt es auf beiden Seiten. Ich bin mal hier, mal da. Ich habe niederländische und deutsche Freunde. Man geht abends zusammen aus oder trifft sich nachmittags zum Fußballspielen.“

In Deutschland traut sich keiner

Laura, 20, ist Deutsche und lebt mit ihrer Mutter in Herzogenrath. Sie ist besonders oft auf der niederländischen Seite: "Meine Eltern sind geschieden. Mein Vater lebt jetzt in Kerkrade. Ich besuche ihn regelmäßig.“ Doch sie hat noch andere Gründe: "Niederländer sind offener und freundlicher, zum Beispiel die Bedienungen in den Geschäften.“ Was sie an ihren eigenen Landsleuten stört? "Die Deutschen scheuen sich die Sprache zu lernen. In der Diskothek in den Niederlanden kann man mit jedem Niederländer Deutsch reden. Die Leute sind nicht so spießig. In Deutschland traut sich keiner auf eine leere Tanzfläche zu gehen. Kein Problem in Holland!“ Überhaupt, das Freizeitangebot: "Die Diskotheken sind ausgefallener. Es gibt schöne Spielhallen mit jeder Menge spaßiger Spiele. Und in vielen Cafés kann man Billard und Dart spielen.“
Besonders mag Laura die ausgefallenen Lebensmittel der holländischen Nachbarn, z.B. Vanille-Vla, Chocomel und Hagelslag. Andererseits: "Die Lebensmittel sind teurer.“ Eins steht für sie fest: "Die holländischen Fritten sind viel besser. Der Frittenmann, zu dem ich immer gehe, nimmt sich 10 Minuten Zeit für eine kleine Portion.“
Und ein Vorteil in Deutschland? "Da darf man schneller Auto fahren. In Holland bekommt man direkt das Auto abgenommen, wenn man zu schnell fährt und die Strafe nicht bezahlen kann.“
Laura würde gerne in den Niederlanden wohnen, "wegen der Atmosphäre und der netten Leute.“ In Maastricht gibt es eine sehr gute Kunsthochschule. "Da hat auch der Kunstlehrer von unserem Gymnasium studiert“, weiß sie. Allerdings spricht man dort Niederländisch oder Englisch. Kein Problem für Laura: Englisch lernt sie seit der 5., Niederländisch seit der 11. Klasse.

Die Zukunft heißt Europa

Auf der Landkarte sieht man, dass noch ein drittes Land ganz nah ist: Belgien. Es gibt ein viel besuchtes Dreiländereck, und die Region trägt Europa schon lange im Namen: Euregio. Auf allen Seiten nutzen die Menschen hier die Vorteile, die eine so enge Nachbarschaft bietet. Doch noch gibt es eine ganze Reihe von nationalen Gesetzen, die Hindernisse bilden. Viele Jugendliche hier hoffen, dass auch diese Hürden eines Tages fallen. Wie heißt es im Vorwort des Schülerprojektes Neustraße? "...dass Grenzen nur temporär und häufig recht willkürlich gezogen sind, dass aber Menschen sie überbrücken können.“

Text und Fotos: Christian Vogeler; historische Fotos: Sven Simon

Sebastian ist seit vier Jahren Niederländer. Ihm gefällt es in dem Land, in dem er aufgewachsen ist, und das seine Eltern als neue Heimat gewählt haben. Deutsch und Nieder-
ländisch spricht er fließend. Das Kloster Rolduc (im Hintergrund) erinnert an die Zeit, als das Land noch nicht getrennt war. Hier geht Sebastian zur Schule.
Laura, die in Herzogenrath wohnt, ist oft auf der hol-
ländischen Seite. Sie findet die Leute dort lockerer. Einkaufen, ausgehen, Pommes essen - das mag sie besonders gerne in Kerkrade.
Kristina fährt
jede Woche von Holland nach Deutschland. Sie trifft sich mit Freunden aus einer inter-
nationalen Studenten-
gemeinde
.
Guido ist begeisterter Sportler. Regelmäßig geht der Deutsche in den Niederlanden zum Tennis- spielen. Er meint, dass auch in anderen Sportarten das Angebot besser ist. Tobias, der als Deutscher in den Nieder-
landen lebt, sieht Vor- und Nachteile eines Grenzgängers: Häuser sind in Kerkrade billiger, aber sein hol-
ländischer Führerschein ist teurer als der deutsche.