JUMA 3/2001

  Eine Schule im Revuefieber - hinter den Kulissen von 100 Jahren Filmgeschichten

"Die in der Technik knutschen dauernd"

18 Uhr. Zwei Stunden noch bis zur Aufführung. Dann geht im Zuschauerraum das Licht aus und der Spot auf der Bühne an. Diese zwei Stunden sind nur ein Bruchteil der Vorbereitungszeit. Ein Jahr Arbeit liegt hinter den Schauspielern und Autoren, den Schülerinnen und Schülern der Martin-Niemöller-Gesamtschule in Bielefeld. In diesem einen Jahr haben sie eine Revue zum Thema 100 Jahre Kino entwickelt. Sie haben Filme ausgesucht, Szenen dazu improvisiert und geschrieben. Und sie haben geprobt - die Texte, den Gesang, das Darstellen der Charaktere. Vom Schminken bis zum Kostüm - an allem waren Schülerinnen und Schüler beteiligt. Auch das ist Schule.

Ohne gutes Licht, den richtigen Ton, Maske und Garderobe kann keine Revue existieren: Hinter den Kulissen sorgen ebenfalls Schüler für den reibunslosen Ablauf.
Die Revue entstand in einem Literaturkurs bei der Lehrerin Anke Koster. Alle Schüler nennen sie Anke, aber klar ist: Sie zieht die Fäden, führt bei allem Feder und Regie. Zwölf Jahre lang war Anke Koster selbst Schauspielerin und hat in Bielefeld ein freies Theater aufgebaut. Inzwischen ist sie und ihre Schule für Theaterprojekte bekannt. Über das Stück "Feenzauber" berichtete JUMA in Heft 1/98. Die "Revue 2000 - 100 Jahre Filmgeschichte" ist eine Nummer kleiner, doch auch hiermit ist eine Tournee geplant. Der Aufwand ist groß. Neben den 21 Darstellern spielen 12 Schüler im Orchester. Die Musik ist selbst komponiert. Für Lichtdesign und Tontechnik sind zwei Arbeitsgemeinschaften zuständig. Zu diesen Teams gehören 24 Schülerinnen und Schüler. Die Musiker benötigten ein halbes Jahr für das Arrangement, die Techniker kamen vor knapp zwei Monaten dazu.

Musiker und Schauspieler sind Schüler. In ihrer Freizeit haben sie immer wieder geprobt. Doch vor der Premiere ist bei den meisten die Aufregung groß.
Das beste ist das Kribbeln

18 Uhr 30. Hinter der Bühne wird jetzt geschminkt. Die Schauspieler legen ihre Kostüme zurecht. Vorne treffen langsam die Musiker ein. Der Saxophonist improvisiert, der Schlagzeuger begleitet ihn. Am Rande sind Tonleitern auf der Klarinette zu hören. Katrin aus der Jahrgangsstufe 10 steht hinter den Mischpulten der Technik. Die ersten Tests laufen. "Licht, Ton, Film abspielen, man macht alles. Ich bin seit vier Jahren dabei. In der 6. Klasse hat uns ein Musiklehrer gefragt, ob wir Lust auf Technik hätten", sagt sie. "Das Schönste ist das Kribbeln vor der Premiere. Ob wohl alles klappt? Man muss sich immer auf etwas Neues einlassen. In jeder Probe läuft’s anders. Unter Umständen ist das Licht bei der Premiere anders als am zweiten Tag der Aufführung." Nicht immer ist die Zusammenarbeit zwischen Technikern und Schauspielern einfach: "Da sind nur Pärchen bei den Technikern", beschwert sich eine Schülerin bei ihren Kolleginnen hinter der Bühne. "Es ist echt schlimm. Ich wollte eigentlich vorhin mein Mikro holen, aber die knutschen dauernd."

Gähnen zur Entspannung

Kurz vor sieben die Durchsage der Chefin Anke Koster: "Die Schauspieler treffen sich in fünf Minuten unten im Theaterraum." Zehn nach sieben sind immer noch nicht alle da. Koster beginnt mit der Besprechung der Premiere. Neben "geil" und "super" kommt Konstruktives: "Charlie Chaplins Bart ist alle zwei Sekunden abgefallen. Das hat mich so irritiert, dass ich beinahe meinen Text vergessen hätte", bemängelt eine Schülerin. Die Lehrerin analysiert Grundsätzliches: "Ich fand die Spannung gestern herausragend. Sie ist bis ins Publikum gegangen. Nach der Premierennacht ist das aber meistens weg, dann kommen Pannen dazu, weil ihr unkonzentrierter seid. Aufpassen!" Es folgenAufwärm- und Entspannungsübun- gen: "Licht aus. Verteilt euch im Raum. Schaltet euren Geist aus, aber vergesst nachher nicht, ihn wieder einzuschalten." Die Schauspieler lockern Gesicht, Arme und Hände, Beine und Füße. Sie stoßen laute "Ah’s", "Äh’s" und "Öh’s" aus, immer wieder von Lachen unterbrochen. Gähnen zur Entspannung. Atmen durch den Mund ein, heben die Arme und atmen in einem lauten "Pah" aus. Zum Abschluss die ernste Bitte Kosters: "Leute, guckt noch mal nach den Requisiten. Und nehmt’s bloß nicht zu locker!" Dann ist jeder wieder für sich. Es ist 19 Uhr 25. Noch 35 Minuten bis zum Beginn.
Beim Einlass werden die Zuschauer mit einbezogen. "Hier wird ein Film gedreht", ruft die Schülerin mit Regisseur-Kappe. Ein vorbeigehender Mann wird für die Hochzeitsszene verpflichtet. Prompt bekommt er einen passenden Hut auf den Kopf. Damit hatte er noch Glück, denn auch ein Bär ist eingeplant. "Rein ins Fell!", heißt es für den nächsten Unfreiwilligen. Wehren zwecklos! Eine Zuschauerin wird zum Casting entführt. "Aber ich weiß doch gar nicht, was ich sagen soll", stammelt sie. "Egal, Kamera läuft. Los weiter, weiter!"

Von Chaplin bis Titanic

Hinter der Bühne gehen Zarah Leander und Lilli Palmer Arm in Arm. Frankenstein, noch ohne Maske, knetet sein zukünftiges Gesicht. Nebenbei soll Alberto aus der Jahrgangsstufe 12 noch den amerikanischen Produzenten von Marlene Dietrich mimen, einen SS-Offizier und einen marokkanischen Gastarbeiter. "Ich kann von einer Rolle auf die andere umschalten. Wir haben viel geprobt, und zum Glück sind meine Szenen nicht so lang." Amir, der unter anderem Charlie Chaplin spielt, hat sein Bartproblem vom Vortag gelöst. Sein schwarzer Schnäuzer ist diesmal aufgemalt. Einige sind ausgelassen und blödeln herum, andere sind ruhig und gehen in Gedanken die Szenen der Revue durch. Von der Piano-Musik aus der Stummfilmzeit mit Nosferatu aus dem "Cabinett des Dr. Caligari" zu Chaplins Brötchentanz aus "Goldrausch". Marlene Dietrich singt in Sternbergs "Blauem Engel", sie sei von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Später muss sie sich mit einem Regisseur der Paramount herumärgern. Zarah Leander folgt mit "Kann denn Liebe Sünde sein?" Der Nationalsozialismus fehlt ebenso wenig wie das deutsche Wirtschaftswunder in den 50-er Jahren und Heinz Erhardt in den 70-ern. Rainer Rainer Werner Fassbinder und Woody Allen bekommen Filmzitate. "Dirty Dancing" und Doris Dörries "Männer" waren eh Pflichtprogramm der Schüler. In der Jetzt-Zeit angekommen, dürfen Titanic und Star Trek nicht fehlen. Kapitän Kirk an Transporterraum: "Scotty, wie lange dauert die Reparatur des Schiffs?" "Sechs Wochen." "Aber wir brauchen es in vier Stunden, Scotty." "Okay, Käpt’n, ich mach’s in zwei."
20 Uhr 05: Das Licht im Zuschauerraum erlischt. Es wird leise im Raum. Das Orchester setzt ein.

Text: Simone Hinz;Fotos: Michael Godehart