JUMA 3/2001

  Der Klon

Wohin geht die Wissenschaft? Das Manipulieren von Genen und das Klonen von Tieren sind heute schon Realität. Jetzt ist der Mensch an der Reihe. Eine Entwicklung, die vielen Menschen Angst macht. Vielleicht sieht die Zukunft ja so aus: Eine hochbegabte Komponistin ist unheilbar krank und kinderlos. Darum lässt sie sich klonen. Mutter und Kind sind damit eineiige Zwillinge. Die Tochter lebt mit dem Auftrag, das Talent der Mutter unsterblich zu machen. Sie ist nur eine Kopie, ein "Blueprint" ihrer Mutter. Die Autorin Charlotte Kerner hat sich diese Geschichte ausgedacht. In ihrem Buch "Blueprint" , ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, erzählt sie, wie die Tochter ihr eigenes Ich sucht und findet. Eine Leseprobe.

Mich gäbe es gar nicht, wenn es nach euch gegangen wäre, ihr Einlinge. Verbieten wolltet ihr jemanden wie mich und raushalten
aus euren geordneten Familienverhältnissen. Doch meine Sorte war von Anfang an klüger als ihr und sehr hartnäckig. Zuerst haben wir uns als Wort breitgemacht. Wir haben alle "Doppelgänger" eliminiert und statt "ähnlich" sagten alle plötzlich und ganz zeitgemäß nur noch "geklont". Langsam schlichen wir uns so in eure Köpfe und besetzten immer mehr Denkplätze in euren Gehirnen.
Als ihr endlich gemerkt habt, dass ihr uns nicht mehr loswerden könnt, versuchten manche uns lächerlich zu machen, und immer mehr Klony-Witze gingen um. Andere drängten uns in die Horrorecke und schlachteten uns in Büchern als Zombies und Organlieferanten aus.
Doch dann kam das geklonte Schaf Dolly – oder sage ich besser der Wolf im Schafspelz – in die Welt und fletschte die Zähne. Erst als dieses Tier laut blökte, begriff auch der letzte Mensch, dass wir tatsächlich nicht aufzuhalten und eine echte und ernst zu nehmende Gefahr sind. Die Lach-Monster-Schraube wurde daraufhin nochmals kräftig angezogen.
Angstlust machte sich unter euch breit. Zwischen "Nein, niemals!" und "Was wäre, wenn ...?" habt ihr geschwankt. Prominente wurden nach ihren Klongelüsten gefragt und weiterhin malte man gröbste Klon-Horrorszenarien aus. Wissenschaftler beruhigten kurz vor der Jahrtausendwende mit dem alten Hinweis: Was beim Schaf oder der Maus machbar sei, gelinge noch lange nicht beim Menschen. Die Klügeren unter euch wägten jedoch schon kühl unser Für und Wider ab. Und während noch viele – wenn auch zunehmend halbherzig – bis zum Beginn des dritten Jahrtausends unserem Verbot das Wort redeten, hat Iris einfach gehandelt und mich in die Welt gesetzt und eure (Alp-)Träume wahr werden lassen.
Doch auch Iris konnte nicht wissen, wie das werden würde mit ihr und mir, mit uns, mit zweimal SIE und zweimal ICH. Auch Iris war unvorbereitet auf das Leben mit dem eigenen Klon.
Schon lange vor meiner Zeit wurde das Klonen mit der ersten Atomspaltung verglichen und das gefällt mir: Wir Klone sind wie kleine Atombomben. In den zwischenmenschlichen Beziehungen sprengen wir viel von dem in die Luft, was euch seit Menschengedenken lieb und teuer war und unveränderlich, ja ewig erschien. Nach uns bleibt ein genetisches Hiroshima zurück, ein seelisches Niemandsland, eine schwarze Liebeswüste.