JUMA 2/2001

  Köln-Leipzig und zurück

Zehn Jahre sind seit der deutschen Wiedervereinigung vergangen. Es ist das Jahr 2000. Kai aus Leipzig und Tina aus Köln beginnen eine Brieffreundschaft. Gibt es noch Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands? Darum, aber auch um die ganz alltäglichen Probleme zweier junger Mädchen geht es in Nina Rauprichs Buch „Köln – Leipzig und zurück“.
Eine Leseprobe.

Hallo Tina!

Danke, dass du so schnell geantwortet hast. Ich habe mich riesig gefreut! Hing gerade ziemlich durch (1), wegen – naja Familie eben. Und dann dein Brief! Mir wurde gleich leichter. Der Frust flog zum Fenster raus.

Was du aber auch für Einfälle hast! Ich musste so lachen über das Gewittertierchen namens Tante Kati. Ehe ich dich daran erinnere, nenn mich lieber Kai. Kati wurde ich schon im Kindergarten genannt. Ich war immer die Jüngste in der Familie. Das ändert sich natürlich nie, aber die kleine Kati bin ich länger nicht mehr. Kai hat was, obwohl ich mich erst daran gewöhnen muss. Kai Runge aus Leipzig, bin ich das? In ein paar Tagen fängt bei uns das neue Schuljahr an. Auch daran muss ich mich erst gewöhnen. Hoffentlich haben wir bis dahin neue Stühle und Tische in der Klasse. Die alten quietschen, einige sind schief, sodass man immer auf eine Seite rutscht, wenn man darauf sitzt. Bei den ganz alten muss man aufpassen, dass man sich keinen Splitter reinzieht, weil sie so schartig (2) sind. Unsere Schule ist ein Plattenbau (3). Sie wird nicht mehr renoviert, weil sie abgerissen werden soll. Aber das ist noch gar nicht sicher. Es hat nämlich Proteste gegeben. Einige Eltern und Lehrer wollen die Plattenbauten erhalten. Meine Mutter sagt, das ist unser DDR-Erbe. Das muss nicht alles weg. Sie ist auch in so eine Schule gegangen und dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Mir ist das egal. Ich will nur einen ordentlichen Tisch und einen bequemen Stuhl haben, der nicht wackelt und nicht knarrt.

An die DDR kann ich mich ohnehin nicht erinnern. Ich lag noch im Kinderwagen, als die Wende kam. Aber meine Eltern reden dauernd über die Zeit davor und danach. „Weeste (4) noch, damals ...“ Sie vergleichen immer.

Alle, die noch in der DDR groß geworden sind, machen das, weil damals vieles anders war als heute. Ich rede lieber mit dir über die Backstreet Boys und freue mich, dass du Nick genauso süß findest wie ich. Sein kleiner Bruder Aaron singt auch schon. Bei denen Zuhause dreht sich alles um Musik. Ist das nicht irre? Und wie die durch die Welt gondeln! Die Fans jubeln ihnen zu, sind süchtig nach ihren Auftritten! Ich auch. Für ein Live-Konzert hat mein Taschengeld noch nie gereicht, aber wenn Nick käme, würde ich eine Bank überfallen. Einmal in seiner Nähe sein! Ich würde schreien, klatschen, tanzen, bis ich in Ohnmacht falle. Das wäre spitze!

Mein Herz rast, wenn ich nur daran denke. Aber ich muss mich losreißen, sonst überwältigt es mich. Meine Mutter hat schon zweimal gerufen. Sie drängelt. Wir wollen zusammen zu meiner Oma fahren. Die wohnt in Gnandstein. Das ist ein Dorf, nicht weit von hier, ganz gemütlich. Ich bin total gern dort. Meine Oma hat einen großen Garten und wir helfen ihnen beim Ernten und Einkochen. Allein schafft sie das nicht mehr. Hast du auch eine Oma mit Garten? (Oma und Opa?)

Manchmal denke ich, in Westdeutschland ist alles anders, weil es da nie die DDR gab und das, worüber hier die Leute reden. Aber dann sage ich mir, das ist doch nur was für die Geschichtsbücher. Ich kenne Tina aus Köln. Die ist so wie ich. Was soll denn bei ihr anders sein?

Ich werfe den Brief noch schnell in den Kasten. Dann hast du ihn vielleicht schon morgen. Schreib mir bald wieder!

Herzlichst deine Katja

Hey Kai,

jetzt bin ich aber froh, dass ich bei dir angerufen habe. Mulmig war mir schon, weil ich nicht wusste, ob du mir ratz-fatz (5) was um die Ohren knallst (6) und dann auflegst. Aber du hast nicht aufgelegt. So konnten wir die Missverständnisse wegputzen (7). Langsam fange ich an zu begreifen, dass deine Familie und all die anderen bei euch eine große Umstellung durchgemacht haben. Wenn man das nicht selbst miterlebt hat, sollte man darüber besser nicht urteilen. Das sage ich morgen auch der Walli. Darauf kannst du dich verlassen.

Die Sache mit Walli muss ich dir noch erklären. Das habe ich am Telefon vergessen. Weißt du, die hat sich richtig aufgedrängt. Sie will gern meine Freundin sein. Meine Freundin ist aber die Sabine. Wir sind schon seit der Grundschule unzertrennlich. Sabine ist so was wie mein Zwilling von mir. Seit den großen Ferien geht die Sabine nun mit einem vom Gymnasium. Der ist schon 16. Es ist die große Liebe bei beiden. Sie haben sich im Freibad kennen gelernt und es hat sofort gefunkt (8). In der Klasse haben alle mitgekriegt, was los ist. Die Walli hat gleich geschnallt (9), dass die Sabine nicht mehr soviel in der Freizeit mit mir unternimmt. Da fing sie gleich an: „Kommst du mit in die Disco? Ich gebe eine Cola aus. Willst du mal meine CD-Sammlung sehen? Ich kann dir was auf Kassette überspielen. Lass uns zusammen ins Kino gehen...“ Dauernd war sie hinter mir her. Als ich so nebenbei erzählt habe, dass ich eine Brieffreundin in Leipzig habe, hat sie sich gleich als Ossi-Expertin aufgespielt. Sie wollte mir einreden, dass in Leipzig die Menschen anders sind als in Köln. Sie hat gesagt, im Osten gibt es jede Menge Nazigruppen und Radikale. Sie weiß das aus dem Fernsehen und von ihren Verwandten.
Aber solche Gruppen gibt es genauso in Westdeutschland und in vielen anderen Ländern. Wir haben erst vor ein paar Tagen in der Schule darüber geredet. Ich will das Thema jetzt nicht noch mal aufwärmen (10). Es hat nichts mit unserer Freundschaft zu tun. Die Walli soll gefälligst ihre Meinung für sich behalten. Das sage ich
ihr auch.

Gestern war Sabine seit längerem wieder einen Abend bei mir. Sie hat von sich und Holger erzählt. In der Schule, wenn alle mithören, sagt sie nicht viel. Aber wir zwei haben noch nie Geheimnisse voreinander gehabt. Mir ist beim Zuhören ganz heiß und kalt geworden. Sabine sagte, was Liebe ist, kann man nicht erklären, das packt dich wie ein Hurrikan. Du kannst nichts dagegen tun. Sie meinte, das Knutschen auf den Partys könnte man überhaupt nicht mit echten Gefühlen vergleichen.

Ich denke gerade darüber nach, dass du es vielleicht doof findest, was ich dir über Sabine schreibe, über Walli, meinen Bruder und die anderen hier. Du kennst die Leute nicht. Aber mir spukt da was im Kopf herum. Bald ist Weihnachten. Bekanntlich gibt’s dann auch Weihnachtsferien. Besuch mich doch. Ich frage meine Mutter, ob sie erlaubt, dass du kommst. Platz zum Schlafen ist genug in meinem Zimmer. Du, Kai, das wäre super! Mir fällt schon jetzt ganz viel ein, was wir zusammen unternehmen könnten! Dann lernst du auch die blöde Walli kennen, Sabine und ihren Freund... Du siehst wie die Leute im Westen leben, hörst wie sie reden und denken. Doofe gibt’s überall, aber nette auch. Das ganze Ossi-Wessi-Gequatsche ödet mich an.

Bitte, sei mir nicht böse und schreib bald wieder.

Deine Tina

Textauszüge und Illustration aus: Nina Rauprich, Köln – Leipzig und zurück, Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg 2000

01 durchhängen – ugs. für: müde, abgespannt sein
02 schartig – schadhaft
03 Plattenbau – Hochhaus aus Fertigteilen (Platten)
04 weeste – ugs. für: weißt du ...
05 ratz-fatz – ugs. für: schnell
06 jmdm. etwas um die Ohren knallen – ugs. für: jmdm. die Meinung sagen
07 Missverständnisse wegputzen - ugs. für: Missv. beseitigen
08 es hat gefunkt – ugs. für: man hat sich verliebt
09 etwas schnallen – ugs. für: etwas verstehen
10 ein Thema aufwärmen – ein altes Thema neu ansprechen