JUMA 1/2001

 
Studentenleben in Rostock

Rostock ist eine Universitätsstadt in den neuen Bundesländern. Hier leben rund 11 000 Studentinnen und Studenten. JUMA hat vier davon besucht. Sie studieren Deutsch als Fremdsprache an der philosophischen Fakultät.

Thorsten aus Ostfriesland

Thorsten (linkes Bild Mitte) besucht eine 45-minütige Vorlesung zum Thema "Textproduktion“. Im Hörsaal findet jeder Platz. Nach der Vorlesung trifft sich Thorsten (Bild oben) mit Kommilitonen im "Studentenkeller“.

Ein Ort zum Studieren

Thorsten, 23, studiert neben Deutsch als Fremdsprache (DaF) Germanistik, Religion und Geschichte. Er ist im 6. Semester und im 2. Semester DaF. Sein Studienziel: das 1. Staatsexamen für das Lehramt an der Sekundarstufe 2 . Mit Deutsch als Fremdsprache erhofft er sich "ein zweites Standbein“: "Damit kann man zum Beispiel an einer Schule im Ausland Deutsch unterrichten.“ Das DaF-Studium gefällt ihm, weil es nicht so theoretisch ist. Begeistert berichtet er von der Umsetzung eines Theaterstücks im Unterricht.
Thorsten hat sich sofort nach dem Zivildienst in Rostock immatrikuliert, weil Universitäten in Westdeutschland oft überfüllt sind. Er hatte Angst vor Massenbetrieb und Anonymität. In Rostock ist alles überschaubar. Im Fachbereich kennt jeder jeden. Dabei hat die philosophische Fakultät 2 770 Studentinnen und Studenten. Aber in den Seminaren sitzen 20 bis höchstens 40 Kommilitoninnen und Kommilitonen.

Im Norden, am Meer

Der zweite Grund: Thorsten kommt aus Ostfriesland und das liegt am Meer. Den Wechsel von der Nord- zur Ostsee konnte er sich vorstellen, einen Umzug nach Frankfurt oder München nicht: "Ich brauche das Maritime“, sagt er, "Möwengeschrei bedeutet frische Luft und Nähe zum Strand.“ Außerdem ist seiner Ansicht nach der Charakter von Mecklenburgern und Ostfriesen ziemlich ähnlich: "norddeutsch kühl“. Die Semesterferien – 5 Monate im Jahr – verbringt er bei seinen Eltern und dem 20-jährigen Bruder im ostfriesischen Dorf Berumbur. Es ist 500 Kilometer von Rostock entfernt.
Lehramtsstudenten in Mecklenburg-Vorpommern müssen mindestens ein Semester im Ausland studieren. Thorsten plant sein Auslandssemester im niederländischen Groningen. Dafür will er ein Stipendium im Rahmen des europäischen Erasmus-Programms beantragen. Auch Groningen liegt im Norden – und in der Nähe vom Meer.

Als Wessi im Osten

Ein Wessi im Osten? "Die Wessi-Ossi-Diskussion ist hier kein Thema“, versichert Thorsten. Er hat diese Frage satt: "Ich weiß gar nicht, wer aus dem Westen kommt und wer aus dem Osten. Es interessiert mich auch nicht!“
Er lebt in einer WG mit 2 Kommilitonen, mit denen er sich gut versteht. Die Wohnung liegt zentral. Man braucht nur wenige Minuten bis zur Uni und in die Innenstadt. Jeder bewohnt ein Zimmer. Küche, Diele und Bad teilen sich die drei.
Bis zum 4. Semester bekam Thorsten BaFöG, ein Teil davon als Darlehen. Nachdem ihm ein Schein fehlte, fiel er aus der Regelstudienzeit heraus – die BaFöG-Zahlungen waren zu Ende. Jetzt bekommt Thorsten Geld von seinen Eltern. In den Semesterferien jobbt er, zum Beispiel als Betreuer einer Zeltfreizeit mit Kindern und Jugendlichen oder am Fließband des Volkswagenwerks in Emden.
Wie stellt Thorsten sich seine Zukunft vor? "Ich träume von einer Anstellung als Lehrer und von einer Kleinfamilie mit 2 Kindern“, sagt er, "Geld und Karriere interessieren mich nicht.“

Katarzyna aus Polen

In der Mensa isst Katarzyna (großes Foto) Seelachsfilet, Bohnen und Salzkartoffeln.
Jogging auf Strandpromenade von Warnemünde (oben)

Ein Semester im Ausland

Katarzyna, 22, ist Polin und studiert im 3. Jahr Slawistik und Deutsch in Stettin, Polen. Sie will Lehrerin oder Dolmetscherin werden. Die Institute für Slawistik in Stettin und in Rostock arbeiten eng zusammen. Sie bieten auch einen Studentenaustausch an, für den es Stipendien gibt. So kam Katarzyna für ein Gastsemester nach Rostock. Sie hat etwa 20 Stunden pro Woche belegt. Im Semester davor hat sie zwei Monate in Moskau, Russland, studiert. Katarzyna bezog ein Zimmer im Studentenwohnheim Warnemünde, 20 S-Bahn-Minuten von Rostock entfernt. Warnemünde ist ein Seebad direkt an der Ostsee. Es hat eine schöne Promenade am Meer und einen kilometerlangen Strand. Dort joggt Katarzyna einmal in der Woche mit ihrer französischen Freundin Marie-Annick.
Das Zimmer von Katarzyna ist sehr einfach. Es ist im Studentenwohnheim, einem hässlichen Plattenbau, und stammt noch aus DDR-Zeiten. Der Anfang dort war schwer: "Ich habe nicht gedacht, dass es solche Gebäude in Deutschland noch gibt.“

Kontakte zur Welt

Katarzynas Leidenschaft ist das Internet, das sie fast täglich eine Stunde lang nutzt: "Ich bekomme über 20 E-Mails in der Woche, lese polnische Zeitungen und surfe zu Museen wie dem Marc-Chagall-Museum in Nizza.“ In der realen Welt organisiert das Auslandsamt der Universität Rostock alle 2–3 Wochen Ausflüge, an denen auch deutsche Studentinnen und Studenten teilnehmen. Gerne würde Katarzyna noch ein Semester in Rostock bleiben, "aber das Stipendium ist leider nicht verlängerbar.“ Nach dem Studium will sie in den Niederlanden leben. Ihr Freund ist nämlich Niederländer.

Susann aus Schwerin

Susann hat es sich in ihrer Wohnung gemütlich gemacht. Seitdem sie für die Uni lesen muss, liest sie nicht mehr so gerne.

Glück nach der Wende

Susann, 25, kommt aus Schwerin. Das liegt bis 1990 in der DDR. Sie ist 14, als der sozialistische Staat zusammenbricht. "Genau im richtigen Moment,“ wie sie heute meint: "Für uns Jugendliche war die Zeit der Wende unheimlich spannend. Für die Erwachsenen brach dagegen eine Welt zusammen.“
Mit 18 besteht Susann das Abitur. Ihr Verhältnis zu ihren Eltern verschlechtert sich, so dass sie von zu Hause auszieht. Sie verbringt ein Freiwilliges Ökologisches Jahr auf Burg Lohra in Thüringen. Die Burg- und Denkmalpflege macht Susann Spaß. Nach
einem Semester Anglistik und Psychologie an der Universität Leipzig macht sie ein einjähriges Praktikum in einer ostdeutschen Restaurationsfirma. Dort lernt sie, wie man Kirchen instand setzt. Als ihre Augen unter dem Staub und unter der Farbe leiden, bricht sie diese Tätigkeit ab. Sie schreibt sich an der Universität Rostock für ein Lehramtsstudium ein. Ihre Fächer sind Germanistik und Biologie. Später kommt Deutsch als Fremdsprache hinzu. Sie jobbt in einer Kneipe. Dort lernt sie viele Leute kennen. "Mein soziales Netz ist sehr eng,“ stellt sie fest, "nicht zuletzt deshalb bin ich sehr glücklich hier.“
Susann ist WG-erfahren. Heute lebt sie lieber allein. Sie hat in Rostock eine Wohnung gemietet und nach ihrem Geschmack eingerichtet.

Deutsch im Süden

Im 5. Semester geht sie nach Schweden. In Luleå studiert sie von Januar bis Juni Pädagogik. Susann profiert gleich mehrfach von ihrem Auslandsaufenthalt: In einem Sprachenzentrum lernt sie Schwedisch. So kann sie – zurück in Rostock – an einer Privatschule Schwedischunterricht geben. Bei einem Schulpraktikum in Schweden lernt sie Schlittschuh laufen, "weil es an jeder Schule Eislaufflächen gibt“. Und sie lernt ihren Freund
Umberto, 25, aus Italien in Schweden kennen. Mit ihm will sie demnächst ein halbes Jahr gemeinsam verbringen, "am besten in Südeuropa“. Dort, wo Susann nach dem Studium wegen des Klimas und wegen der Leute am liebsten unterrichten würde.