JUMA 2/2000

  Klassenarbeit

Wer lernt, gewinnt

Klassenarbeiten sind für fast alle Schüler eine ernste Sache. Mit den Zensuren entscheidet sich vieles: bekommt man ein gutes oder ein schlechtes Zeugnis? Wird man in die nächste Klasse versetzt oder muss man das Jahr wiederholen? Eigentlich schreibt fast kein Schüler gerne Klassenarbeiten. Trotzdem geht kein Weg an ihnen vorbei.

Das Arbeiten am Computer ist Mechthild am wichtigsten
Für die zehnte Klasse der Max-Born-Realschule in Dortmund ist es soweit: Die erste Klassenarbeit im Hauptfach Englisch steht auf dem Plan. Falk (15) und Alexandra (16) haben sich zum Üben verabredet. Sie treffen sich einen Tag vor der Arbeit bei Alexandra zu Hause. Lehr- und Wörterbücher kommen auf den Tisch, Vokabelhefte und Stiftdosen. „Wir beginnen mit den Vokabeln, die wir in den letzten Wochen gelernt haben“, schlägt Alexandra vor. „Oje, gleich zu Beginn Gehirnakrobatik1“, stöhnt Falk. Alexandra beginnt mit dem Abfragen. Beide wissen ungefähr, was in der zweistündigen Arbeit drankommen könnte: „Erstens geben die Lehrer immer Tipps zum Thema. Zweitens kennt man natürlich den Stoff der letzten Wochen. „Bei uns waren ,if-Sätze‘ und ,Probleme ausländischer Jugendlicher in Großbritannien‘ wichtige Themen. Dazu werden sicherlich Fragen kommen“, meint Alexandra, „immerhin nicht total uninteressant.“

Falk grinst etwas gequält. Ihm wäre eine Mathearbeit lieber. „Informatik, Mathematik und Computerprobleme lösen – das liegt mir. In Englisch bin ich nicht schlecht, aber auch nicht einsteinmäßig2.“ Alexandra mag Biologie am liebsten. „In dem Fach gibt’s aber nur kleinere Tests, weil’s kein Hauptfach ist.“ Falk erzählt, dass die Schüler eigentlich selten zusammen üben. Viele aus der Klasse sind sogenannte „Einzelkämpfer“. Alexandra dagegen trifft sich ab und zu mit anderen Mitschülerinnen zum Üben. „Ich finde es eher schade, wenn jeder alleine vor sich hin wurschtelt3.“

Zur Vorbereitung einer Klassenarbeit gehört bei vielen auch ein schlaues Schummel- und Spicksystem, das man im Notfall befragen kann. Alexandra schreibt für Englisch Vokabeln, die sie sich nicht merken kann, auf winzige Zettel. Die versteckt sie unter den Stiften in der Stiftdose. In der Dose kleben auch kleine Zettel mit Formeln von der letzten Mathearbeit. Falk kritzelt kleine Bemerkungen ins Wörterbuch und lässt sich von Alexandra wichtige Vokabeln auf den Arm schreiben. „Wenn man ein bisschen geschickt am Pulliärmel zupft, kann man prima schummeln“, meint Falk.

Wer mogelt, hat die Wahl

Am nächsten Tag sitzen die Schüler mit ziemlich skeptischen Gesichtern im Klassenzimmer. Christel Sise-Kowalski, die Englischlehrerin, legt die Kopien mit den Fragen auf das Pult. Dann beginnt sie mit dem Austeilen der Zettel an die Schüler. Anschließend setzt sie sich aufs Pult. Von dort hat sie einen besseren „Überblick“. „Ich übersehe kleinere, einmalige Schummeleien – aber wenn ich jemanden erwische, der offensichtlich oder dauernd mogelt, hat er oder sie die Wahl“, sagt Frau Sise-Kowalski. „Erstens: Die Arbeit wird wiederholt. Falls der Schüler das nicht will, gibt’s die schlechteste Note, eine Sechs. Zweitens: Ich streiche die Textpassage, in der gemogelt wurde – das gibt Punktabzug. Drittens: Der Schüler bekommt ein neues Arbeitsblatt.“ Einige Lehrer schieben alle Bänke auseinander um das Mogeln zu verhindern. Andere gehen sogar in die Aula, um die Schüler einzeln zu setzen. „Das ist ein bisschen übertrieben“, meint die Englischlehrerin.

Die Schüler grübeln über den Aufgaben und versenken ihre Nase ins Heft. Alexandra schreibt eifrig, Falk zermartert seine kleinen „grauen Zellen“4. André hat sein „Machwerk“ fast fertig. Allerdings hat er beim Nachbarn Jan ein bisschen „gespickt“. Etwas Schielen hilft auch Alexandra weiter. Am Ende der Englischstunde sammelt die Lehrerin die Hefte ein. Zurück bleibt ein mittleres „Schlachtfeld“ auf den Schülerpulten. Jeder will erst mal raus und mit den anderen reden. Alexandra hat ein „mittelgutes“ Gefühl und spricht mit ihrer Freundin Jasmin über die Arbeit. André hat erst mal keine Lust sich weiter Gedanken darüber zu machen. „Ich lasse mich – hoffentlich positiv – überraschen.“

Die Eltern müssen unterschreiben

Am Wochenende sitzt Christel Sise-Kowalski im Garten und korrigiert die Arbeiten mit dem Rotstift. „Die Klasse war diesmal ganz gut. Darüber freue ich mich. Entweder habe ich gut erklärt oder die Schüler haben gut gelernt. Oder beides – das wäre am besten.“ Zur nächsten Englischstunde bringt die Lehrerin die Klassenarbeiten wieder mit. Einige Schüler schleichen im Schulflur mehr oder weniger erwartungsvoll um sie herum. Vielen Schülern „geht der Stift“5. Vielleicht war das gute Gefühl doch nicht richtig? Oder man weiß von einigen „grausamen“ Fehlern, die man fabriziert hat. Oder man war immer schon schlecht in Englisch. Frau Sise-Kowalski schreibt zuerst den Klassenspiegel6 an die Tafel. Es gibt sogar eine Eins, ein „sehr gut“ also. Danach bespricht sie die Arbeit mit den Lösungen und den häufigsten Fehlern. Erst jetzt kommt die Rückgabe. Jan sieht deprimiert aus, André grinst freudig: „ Diesmal hat’s geklappt. Eine gute Note für mich.“ Mit den aufgeschlagenen Heften „verdauen“ die Schüler erst mal ihre Zensuren und Fehler. Für Falk geht der Daumen runter, Jasmin, Alexandra und Andy dagegen können den Daumen „hoch halten“. Für sie ist alles gut gelaufen. Christel Sise-Kowalski fordert ihre Schüler auf, die angestrichenen Fehler bis zur nächsten Stunde zu korrigieren. Die Eltern müssen die Arbeit unterschreiben. So wissen die Lehrer, dass die Schüler ihre Eltern über die Zensuren informieren.

Andy (16) macht sich auf den Heimweg und trifft seine Mutter im Garten. „Hallo, Andy! Hat’s geklappt?“, fragt Andys Mutter. Andy ist ziemlich zufrieden und erklärt seiner Mutter die Arbeit und die Fragen. Anschließend unterschreibt sie die Arbeit. Andy grinst und gesteht: „Ich hab’ gut lachen. In Englisch habe ich einen ziemlich großen Vorteil gegenüber meinen Mitschülern – ich bin nämlich Schotte.“

    1 Gehirnakrobatik – geistige Anstrengung
    2 einsteinmäßig – schlau wie Einstein
    3 vor sich hin wurschteln – alleine ohne viel Erfolg arbeiten
    4 seine kleinen grauen Zellen zermartern – sich den Kopf zerbrechen
    5 einem geht der Stift – jemand hat Angst
    6 Klassenspiegel – Ergebnisliste der Zensuren einer Arbeit