JUMA 2/2002

 
Leseprobe

Gleich und verschieden

Im Jahr 1990 befragte die Berliner Pädagogin Helga Moericke Schülerinnen und Schüler aus Ost- und West-Berlin nach ihren Zukunftsplänen und Gedanken zur politischen Wende in Deutschland. Zehn Jahre später hat sie die jungen Leute wiedergetroffen und gefragt: Wie haben sich die Ansichten geändert, was ist aus den Gegensätzen von damals geworden? Aus den Interviews ist ein spannendes Lesebuch über ein Stück deutsch-deutsche Geschichte geworden.

Christoph, 1990, West-Berlin:
"In unserer Gesellschaft heißt es bereits während der Schulzeit: Ellenbogen raus (1). Ich möchte Medizin studieren. Ich wusste: Ich brauchte ein ziemlich gutes Abitur, um studieren zu können. Mir war der Kampf um jeden Punkt wichtiger, als mich um andere zu kümmern, bei denen das Abitur in Frage stand. So wird der Mensch zum Egoisten herangezüchtet. Eine Haltung, die ich schrecklich finde. Doch konnte ich mich dem nicht entziehen.“
Christoph, 2000:
"Erleben und Leben in der Gruppe haben bei den Ostdeutschen einen anderen Stellenwert als bei mir und den Westdeutschen.
Sie forcieren es, auch mal was außerhalb der Arbeitszeit miteinander zu machen ... Ich bin prinzipiell einer, der sagt: Man setzt sich hin, macht seine Arbeit fertig und geht nach Hause. Insofern finde ich es ganz angenehm, mal eine andere Mentalität kennen zu lernen.“

Fabian, 1990, West-Berlin:
"Einmal bin ich nach der Maueröffnung auf den Alexanderplatz gefahren, und die Menschen machten, pauschal gesagt, den Eindruck, als wären sie graue, blasse Arbeitermäuse, alle einheitlich.“
Fabian, 2000:
"Wenn ich mit den Menschen aus der ehemaligen DDR zusammentreffe, sehe ich keine Unterschiede. Ihre Herkunft merkt man ihnen höchstens noch an der Sprache an. Ansonsten tragen sie die gleichen Klamotten (2), hören die gleiche Musik und sehen die gleichen Filme.“

Klaus, 1990, Ost-Berlin:
"Die Auswirkungen der Maueröffnung sind für mich immer noch unübersehbar, nicht fassbar. Ich weiß nicht, ob es einen anderen Weg gegeben hätte. Nun läuft alles nach einer inneren Logik ab: Die Mauer ist offen, als nächstes kommt der Ruf nach dem Geld und als übernächstes der Ruf nach dem gleichen Wohlstand. Keiner fragt mehr nach den Menschen, den einzelnen Schicksalen.“
Klaus, 2000
"Mir hat die Wende Vorteile auf jeder Ebene gebracht: Vorteile für meine Berufswahl und Karriere, Vorteile für meinen persönlichen Freiraum und Vorteile auf der platten (3) Ebene der Konsumgewohnheiten und Konsumansprüche. Ich weine dem alten System überhaupt nicht nach (4).

Bettina, 1990, West-Berlin:
"Im Osten würde ich nicht studieren wollen. Nicht, dass ich den Professoren die fachliche Kompetenz abspreche. Nein,
ich hätte Angst, dass der Vorlesungsbetrieb noch ideologisch gefärbt ist. Und ich kenne mich, wenn ich regelmäßig jeden Tag etwas vorgepredigt (5) bekomme. Dann sehe ich für mich die Gefahr, dass ich am Ende selbst daran glaube.“
Bettina, 2000:
"Meine damaligen Bedenken gegen ein Studium im Osten, um nicht von ideologischen Ansichten der Professoren beeinflusst zu werden, haben sich als absoluter Quatsch herausgestellt. In den ersten Semestern an der TU (6) hatte ich nämlich eine Lehrbeauftragte aus dem Osten. Das war eine tolle Frau. Leider ist sie aus Berlin weggegangen, da sie hier keine Professur bekommen konnte.“

Susanne, 1990, Ost-Berlin:
"So überwältigend fand ich den Westen nicht. Für mich ist es deprimierend: vorgeführt zu bekommen, wie demütig sich unsere Leute in den Geschäften verhalten ... Solche Unterwürfigkeit habe ich von Westberlinern nie gehört. Die gehen mit einem für mich unvorstellbaren Selbstbewusstsein herum. Ich will, heißt es.“
Susanne, 2000:
"An der Humboldt-Universität sehe ich immer mehr Leute aus dem Westen. Schwierigkeiten untereinander gibt es nicht, auch wenn noch einige Unterschiede zu spüren sind. Die West-Studenten haben ganz andere Kenntnisse. Sie können sich oft besser äußern, besser argumentieren und sich besser behaupten. Sie sind generell selbstbewusster.“

Zitate (gekürzt und sprachlich vereinfacht aus: Helga Moericke, Margarete Hambürger, Gleich und verschieden - Lebensentwürfe aus Ost und West 1990 und die Realität 2000, Frieling Verlag, Berlin 2001; ISBN: 3-8280-1379-1

1 Ellenbogen raus - Redewendung: sich durchsetzen ohne Rücksicht auf andere
2 Klamotten - ugs. für: Kleidung
3 platt - ugs. für: flach, oberflächlich
4 (etwas oder jemandem) nachweinen - Redewendung: (um etwas oder jemanden) trauern
5 etwas vorgepredigt bekommen - ugs. hier für: etwas beigebracht bekommen, was man nicht hören möchte
6 TU - Abkürzung für: Technische Universität