JUMA 2/2002

  Durchblicken statt wegsehen

Mit 15 braucht man einen Mofa-Führerschein, um mobil zu sein.
Mit 18 macht man den Führerschein fürs Auto. Damit kommt man leichter zur Disko. Aber wozu braucht man einen Öko-Führerschein?

Keine Berührungsängste: Teilnehmerinnen des Öko-Seminars auf Gut Gollin. Neben einer Ziege und Kälbern gehören Rinder, Schweine, Schafe und zwei Pferde dazu.
Einen Öko-Führerschein braucht man, um sich in Umwelt und Gesellschaft besser zurechtzufinden,“ sagt Matthias Spittmann, genannt „Spitti“, von der BUNDjugend (1). Außerdem bekommt man mit dem Öko-Führerschein leichter eine Stelle für das Freiwillige Ökologische Jahr oder eine Zivi-Stelle (2) im Umweltbereich.
„Spitti“ ist 24 Jahre alt und studiert Jura in Berlin. Er betreut mit Gartenbau-Studentin Birke, 21, auf dem Schulbauernhof Gut Gollin in Brandenburg ein Seminar mit dem Titel „Gemeinsam aktiv“. Es ist Teil einer Seminarreihe, die Jugendliche besuchen können. Dafür bekommen sie am Schluss den Ökoführerschein und nach einer Zusatzqualifi- kation auch die „JugendleiterIn Card“. Mit ihr können sie Jugendgruppen betreuen. 17Jugendliche nehmen an dem Seminar auf Gut Gollin teil, darunter4 Jungen. Die meisten haben das Gefühl, etwas für die Umwelt tun zu müssen. Was genau, wissen sie nicht.

Ganz normale Leute

Dorothee, 18, hat in einem Berliner Café einen Artikel über den Öko-Führerschein gelesen und sich spontan zur Teilnahme am Seminar entschlossen. Sie hat bereits ein Jahr auf einem Öko-Bauernhof in der Schweiz verbracht. Davon ist sie noch heute begeistert. Umweltthemen interessieren sie.
Trotzdem war sie zunächst skeptisch: „Ich habe befürchtet, dass hier nur Vegetarier und der harte Öko-Kern (3) zusammenkom- men, aber das sind ganz normale Leute.“ Leute, die – wie sie – auch mal einen Hamburger essen. „Schließlich bin ich ein Großstadtkind“, sagt Dorothee.
Neben ihr sitzt Kersten, 17. Er hat vor 3 Jahren den Umweltklub „Tiere“ in seinem 500-Einwohner-Dorf Dolgelin gegründe

t. Die Mitglieder des Klubs räumen Müll weg, organisieren Bootstouren, beobachten Rehe, Hasen und Füchse und sind im Internet aktiv.
„Industrie,“ sagt Kersten, „ist nicht so mein Ding (4). Vielleicht, weil ich in einem winzigen Dorf mitten in der Natur lebe.“ Demnächst will er eine Umweltgruppe an seiner Schule gründen. So viel Engagement zahlt sich aus: „Un-seren Vorsitzenden schi-cken wir mal zum Seminar nach Brandenburg“ , hat der Vorstand des „Tiere“-Klubs Dolgelin einstimmig entschieden. Schließlich kann ein Öko-Führerschein nicht schaden.
Laura, 17, war schon mit 12 Jahren Mitglied der BUNDjugend. Als Austauschschülerin ist sie ein Jahr in Südafrika gewesen. Sie findet es „sehr schade, dass dort ökomäßig (5) für Jugendliche überhaupt nichts läuft.“ Die Ovo-Lakto-Vegetarierin (6) hat mit 15 begonnen, Seminare für den Öko-Füh- rerschein zu besuchen. Sie glaubt, dass sie auf Gut Gollin nicht „massig viel Neues gelernt hat.“
Dorothea, 17, hat bis zum 10. Lebensjahr auf einem Friedhof gewohnt. Ihr Vater ist Landschaftsplaner und hat in Jena den Friedhof gestaltet, „auch das ist Natur!“ Dennoch ist „Gemeinsam aktiv“ Dorotheas erstes Seminar in
Sachen Umwelt. Sie findet es „sehr
informativ.“

Umdenken gefordert

„Großstadtkind“ Dorothee war überrascht, dass „ganz normale Leute“ den Öko-Führerschein machen. Laura beschäftigt sich seit ihrer Kindheit mit Ökologie. Die Ovo-Lakto-vegetarierin hat bei dem Seminar nicht viel Neues erfahren.
Katrin Kahl ist Diplom-Pädagogin und beliefert Selbstversorgergruppen (7) in Berlin und Brandenburg mit Lebensmitteln. Auf Gut Gollin informiert sie über „Öko-Landbau“ und „natürliche Ernährung“. Sie erklärt, dass ein Öko-Bauer Energie und Rohstoffe spart, auf Chemie verzichtet und so biologisch hochwertige Lebensmittel produziert. „Im Gegensatz dazu“, sagt Katrin Kahl, „schädigt die industrielle Produktion bei zugegeben immer höheren Erträgen Boden, Wasser und Luft. Viele Tier- und Pflanzenarten sterben dadurch aus.“
Gemeinsam mit den Jugendlichen backt sie die Frühstücksbrötchen während des Seminars. Sie erklärt, welche Zusatzstoffe in industriell gefertigten Brötchen stecken: „In einem Brötchen steckt viel zu viel, was da eigentlich nicht hineingehört – von Sojamehl über Phosphat bis zu Enzymen. Die ,chemischen Pülverchen’ sind notwendig, um unterschiedliches Getreide den standardisierten Produkten und modernen Maschinen anzupassen.“
Das Backen „natürlicher Brötchen“ auf Gut Gollin mit Mehl, Wasser, Salz, Hefe, Öl und Zucker überzeugt sogar Christin, 15, und Alex, 17.
Ihre Mütter haben sie zu dem Seminar „verdonnert“ (8). „Mit Öko haben wir eigentlich nichts im Sinn!“, sagen beide. Jetzt wollen sie „umdenken und nicht mehr einfach konsumieren ohne nachzudenken.“
Wer so denkt, hat den Öko-Führerschein so gut wie in der Tasche (9).
Text: Jörg-Manfred Unger; Fotos: Michaelk Kämpf

1 BUNDjugend - Jugendorganisation im „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland“
2 die Zivi-Stelle - eine Stelle als Zivildienst- leistender (Alternative zum Wehrdienst beim Militär)
3 der harte Öko-Kern - überzeugte Anhänger ökologischer Lebensweise, die nichts anderes gelten lassen
4 nicht so mein Ding - etwas, was ich nicht mag
5 ökomäßig - in Bezug auf Ökologie
6 Ovo-Lakto-Vegetarier/in - isst kein Fleisch, isst aber Eier und trinkt Milch
7 Selbstversorgergruppen - Gruppen, die ihre Lebensmittel direkt vom Erzeuger bekommen
8 jemanden zu etwas verdonnern - jemanden zu etwas verpflichten
9 so gut wie in der Tasche haben - fast sicher haben